Skispringer Karl Geiger:Siegertyp für den deutschen Wintersport

Ski nordisch/Kombination Weltcup

Karl Geiger jubelt in Italien.

(Foto: dpa)

Von Volker Kreisl

Kleinformate können auch spektakulär sein. Im Schwimmen oder im Triathlon haben Kurzstrecken ihren Rang, in Mode gekommen sind auch diverse Sprintformate, etwa im Biathlon oder sogar im Rodeln. Da geht es schnell zur Sache, das ist kompakt und lässt sich verkaufen. Kleinstrecken sind also beliebt, aber Kleinschanzen?

Kaum beginnt nach 80 Metern der Rausch des Fliegens, muss man schon wieder die Beine zur Landung ausfahren. Dabei sind diese Normalschanzen zwar kurz, aber mindestens genauso schwer zu springen. Die meisten Frauen sehnen sich also danach, endlich auf mehr Großschanzen fliegen zu dürfen, die im Männerweltcup ohnehin schon fast die Regel sind.

Aber dann kam vergangene Woche die Nachricht aus Predazzo im Val di Fiemme/Italien, ein Schneerutsch habe dort die große Anlage beschädigt, man müsse auf den 104-Meter-Bakken umziehen. Große Freude hat das nicht unter den Skispringern ausgelöst, einer aber erklärte, er werde versuchen, es trotzdem zu genießen: Karl Geiger sagte vorab, "ich finde das zur Abwechslung ganz schön, da wir kaum noch Wettkämpfe auf Kleinschanzen haben." Und nun führt er im Gesamtweltcup.

Insgesamt zeige die Geiger-Tendenz stetig nach oben

819 Punkte hat der Oberstdorfer gesammelt. 120 Zähler Vorsprung hat er auf den zweitplatzierten Österreicher Stefan Kraft. Der Dritte, der Japaner Ryoyu Kobayashi, der eben noch alles anführte, liegt nach dem Ausflug in die Dolomiten mit 164 Punkten Rückstand plötzlich auf Platz drei - die Rangliste der Besten steht Kopf. Und obwohl im Skispringen eine Siegform schnell mal einbrechen kann, so ist bei Geiger doch eine Tendenz erkennbar. Seine beiden Siege in Predazzo sind nur ein weiterer Beweis seiner aktuellen Stabilität.

Seit Saisonbeginn im November war er nie schlechter als Achter. Dieser Rang war ihm bei der Vierschanzentournee in Innsbruck dazwischen gerutscht. Insgesamt zeigte die Geiger-Tendenz stetig nach oben. Mit einem siebten Platz in Wisla/Polen hatte er begonnen, und dies dann in Nischni Tagil in Russland fortgesetzt, auf das er sich trotz Kälte und Dunkelheit freute wie nun auf die Kleinschanzen.

Zuletzt waren es dann fast nur noch zweite Plätze und schließlich zwei Siege. Egal ob bei Rücken- oder Aufwind, bei Sonnenschein oder tiefer Nacht - Geiger verstand es, das Beste draus zu machen, und sagte danach doch meistens: "Ich muss jeden Tag weiter an mir arbeiten, damit die Sprünge gut werden."

Auf Geiger könnte eine neue Rolle warten im deutschen Wintersport

In Predazzo machte er nun abermals einen Schritt nach vorne, konnte sich zweimal vor die Besten setzen. Vor den Polen Dawid Kubacki, gegen den er auf den Tournee-Stationen in Innsbruck und Bischofshofen seine einzigen echten Niederlagen einstecken musste. Auch vor Kraft, der zweimal hinter ihm Zweiter wurde. Und auch vor Kobayashi, der sich auf die kurze Anlauf- und Sprungdistanz nicht umstellen konnte. Geiger dagegen bestach mit einem gut abgestimmten Gesamtpaket. Er fuhr im Vergleich zur Konkurrenz beim Anlauf am schnellsten, hatte den besten Instinkt im Absprung, segelte ohne Turbulenzen und befand sich auch mit seinen Landenoten unter den Besten. Geiger sei momentan "wirklich stabil", sagt Bundestrainer Stefan Horngacher, und in der Lage, "jedes Springen zu gewinnen."

Aber nun könnte eine neue Rolle auf ihn warten im deutschen Wintersport. Nachdem gerade in fast allen Disziplinen Siegertypen abgetreten oder in Formtiefs geraten sind, richtet sich der Fokus automatisch auf den Einzigen, der in seinem Ranking ganz oben steht. Derjenige, der etwas Glanz bringt, während im Biathlon zu oft danebengeschossen wird, die Rodler ihre Ideallinie verfehlen, und die Skirennfahrer ohne den zurückgetretenen Felix Neureuther auskommen müssen. Es fehlt dem Winter eine Leitfigur, und Sven Hannawald, der Tourneesieger von 2002, sagte der Deutschen Presseagentur nun, er traue Geiger diesen Part zu: "Er ist der Hauptdarsteller und zieht auch erst mal alles auf sich."

Erst drei Deutsche gewannen vor Geiger den Gesamtweltcup

Nicht nur für die Öffentlichkeit, auch für den Deutschen Skiverband spielt Geiger gerade eine besondere Rolle. Im olympischen Zwischenwinter 2019/2020 gibt es weder eine Alpin- noch eine Nordisch-Weltmeisterschaft. Die Skiflug-WM in Slowenien findet erst vom 20. bis 22. März statt, davor erstreckt sich ein langer Spätwinter mit 17 Weltcupspringen. In diesen neun Wochen ist es für die Spannung Gold wert, einen Kandidaten für den Gesamtsieg zu haben.

Diese 17 Springen muss der neue Hauptdarsteller Karl Geiger aber erst einmal überstehen. Alle möglichen Gedanken könnte er sich machen, etwa an die Hoffnungen, die auf ihm ruhen, wenn der Lärm an der Schanze wieder ansteigt. Zum Beispiel gleich am kommenden Wochenende, beim Weltcup in Titisee-Neustadt im Schwarzwald. Oder in Willingen im Hochsauerland, drei Wochen später. Oder daran, dass etwas dazwischenkommen könnte, nicht umsonst haben ja erst drei Deutsche vor ihm den Gesamtweltcup gewonnen, Jens Weißflog (1983/84), zweimal Martin Schmitt (1998/99, 1999/2000) und Severin Freund (2014/15).

Aber Geiger hat für dieses Ziel gute Voraussetzungen. Er denkt schon länger nicht mehr an schlimme Folgen, sondern nur an seinen nächsten Sprung, außerdem kann er sich immer besser neuen Herausforderungen stellen. Zum Beispiel denen auf einer Kleinschanze. Die kurzen Flüge in Predazzo hat er nicht nur bewältigt, sie haben ihm sogar Spaß bereitet. "Wenn man hier die Kante rechtzeitig trifft, macht es mega Gaudi", sagte er dem Portal skispringen.com, "ich mag diese Schanze."

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