Auf einmal stand da eine Schanze. Sie war gedacht fürs Skispringen. Eine kleine sogenannte mobile Sprungschanze, die bei einer Werbeaktion in Dornbirn südlich des Bodensees aufgestellt wurde. Und es ist bis heute nicht ganz klar, wer zu wem kam, die spätere Siegerin zur Schanze, oder die Schanze zur späteren Siegerin, nämlich zu Eva Pinkelnig aus Dornbirn.
Jedenfalls hatte sich die vor gut zehn Jahren sofort mit dem Minibakken angefreundet und ihre Skisprungkarriere begonnen. Diese führte sie in dunkle Tiefen und lichte Höhen, aktuell schickt sie sich an, die Silvestertournee zu gewinnen. Am Donnerstag gewann sie auch den zweiten Wettkampf und führt vor der Oberstdorferin Katharina Althaus, die diesmal zwar mit starken Sprüngen auf Platz zwei gekommen war, jedoch schon mit 24,4 Punkten zurückliegt hinter der führenden Österreicherin.
Skispringen:Unverschämtheit und Chance
Die Skispringerinnen kritisieren zu Recht die neue Silvester-Tournee - Werbung für sich und ihren Sport könnten sie dennoch damit machen.
Es war damals eher Pinkelnig, die zur mobilen Schanze fand. Mobilen Schanzen ist es egal, wer auf ihnen springt, sie ziehen ohnehin weiter, zu anderen Kunden. Pinkelnig aber war infiziert, sie blieb dem Skispringen treu. Das Wort Springen hat hierbei aber doppelte Bedeutung. Den Wagemut, den sie später beim Springen in der ersten Luft-Phase aufbrachte, hatte sie schon gezeigt, bevor alles begann. Nicht jeder Mensch, der bereits im Berufsleben steht, der als gelernte Pädagogin einer erfüllenden Arbeit nachgeht, lässt alles hinter sich und fängt von vorne an. Pinkelnig aber überlegte kurz und hob dann ab über den großen Bakken des Lebens in den Sport.
Sie lernte, dass dieser Sport direkt ins Krankenhaus befördern kann
Sie war ja schon 24 Jahre alt, und sie ließ Vorarlberg, den See und die Kletterberge hinter sich. Weil sie durchtrainiert war, weil sie offenbar ein Gespür für komplizierte Sporttechniken besaß, weil sie im übrigen sich selbst als etwas verrückt bezeichnete, war sie im exakt richtigen Sport gelandet: im oft unberechenbaren, verrückten Skispringen. Entsprechend lange dauerte es, bis sie das Niveau erreichte, das sie in diesen Tagen zeigt. Es war damals noch die Zeit der Premieren, etwa die bei Olympia 2014, die Carina Vogt gewann. Die Frauen kämpften noch darum, ernstgenommen zu werden und nicht jede war eine selbstbewusst auftretende Athletin wie die Österreicherin Daniela Iraschko-Stolz oder ihre spontane und verrückte Teamkollegin Pinkelnig.
Die genoss diesen Glückshormon-Sport und dieses Leben, das sie im Sommer in Trainingszentren verbrachte und im Winter auf Flugschanzen. Sie war immer gut gelaunt und scheute nicht das Risiko, weil sie dieses Temperament hatte, wie sie einmal sagte: "Ich bin sehr extrovertiert, und das muss dann einfach raus." Dann aber, 2016, lernte sie die Kehrseite des Skispringens kennen. Sie lernte, dass dies ein Extremsport ist, der sie von der Schanze direkt ins Krankenhaus befördern kann.
Bei einem Trainingssturz zog Pinkelnig sich einen Milzriss zu und schwebte in Lebensgefahr
Pinkelnig wirkt trotz ihrer wilden Art nicht so, als würde sie mit ihrer Gesundheit spielen. Sie geht eben an die Grenzen, wie viele Skispringer. Auch sie hat nun ein gutes Mittelmaß gefunden zwischen Risiko und Vorsicht, doch der Weg dahin brachte sie dreimal ins Hospital. 2016 etwa wurde sie mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma eingeliefert, und zunächst war nicht absehbar, wie sich die neurologischen Folgen auswirken. Sie kam zurück. Drei Jahre später, bei der WM 2019 in Seefeld, holte sie Silber mit dem Team und im Mixed. Die Spät-Karriere konnte also richtig starten, dann aber stürzte sie im Training, zog sich einen Milzriss zu, verlor einen Liter Blut und schwebte zwischenzeitlich in Lebensgefahr.
Es ist wohl normal, wenn Extremsportbetreibende nach so einem Erlebnis nicht mehr in die Form zurückfinden, Pinkelnig aber lernte abermals dazu und fand einen Weg zurück auf die Schanze. Die Entscheidung weiterzumachen, war schnell gefallen, die Rückkehr wieder harte Arbeit. Sie brauchte nun länger, um Fuß zu fassen. An Mut habe es ihr nie gefehlt, sagte sie einmal im Internet-Portal Vorarlberg Online, "der war immer da", und den hatte sie auch jetzt noch behalten. Die neurologischen Verletzungen zu heilen, das dauerte länger. Doch Pinkelnig wollte zurück auf die Schanzen, und ging abermals durch eine Phase ganz ohne Rausch und Euphorie, sondern in langsamen Schritten, in einer Visualisierungstherapie, mit der sie Ängste überwand und irgendwann wieder springen konnte.
Vielleicht ist diese späte Zeit in ihrer Karriere der eigentliche Beginn, der Start der Erntezeit. Pinkelnig, einst Kletterin, Therapeutin, Skisprung-Spätstarterin, Bruchpilotin und Rückkehrerin, ist nun in die Phase der Erfolge eingetreten.