Süddeutsche Zeitung

Skispringer Markus Eisenbichler:Vom Stöpsel zum Weitflieger

Ein emotionaler Wettkämpfer und ein komplizierter Psychosport: Das passt aktuell so gut zusammen, dass Markus Eisenbichler tatsächlich die Vierschanzentournee gewinnen könnte.

Von Volker Kreisl, Innsbruck

Eishockey, das ist ein Sport, in dem immer was los ist. Da ist Tempo im Spiel, da geht es hin und her, da rasseln die Sportler zusammen, manchmal auch mit den Fäusten. Eishockey erfordert Temperament, Leidenschaft und Kampfgeist, aber auch Präzision, Technik und Köpfchen. Im Eishockey kann man seinen ganzen Ärger und Frust schnell wieder abreagieren, und in "positive Energie umsetzen", wie die Trainer immer sagen.

Warum bloß ist Markus Eisenbichler nicht Eishockeyspieler geworden?

Er tendiert ja auch zu emotionalen Reaktionen, man braucht sich nur sein Gesicht nach Erfolgen oder Misserfolgen anzuschauen. Eisenbichler ist ein leidenschaftlicher Sportler, und er hat mit Passion auch Eishockey gespielt, sieben Jahre lang, auf der Eisfläche im Nachbarort Inzell in den bayerischen Bergen, bis er 14 war. Aber jetzt? Jetzt treibt er diesen komplizierten Psychosport, der manchmal an Yoga erinnert, wenn die Sieger ihr Credo verraten: "Alles darf, nichts muss!"

Und in diesem Sport, dem Skispringen, steht Eisenbichler gerade ganz oben.

Bei der Vierschanzentournee ist er im Moment Zweiter der Gesamtwertung, und wenn man diese Liste zur Halbzeit der Serie betrachtet, dann ist er der Einzige, der dem haushohen Favoriten Ryoyu Kobayashi noch auf den Fersen ist. Eigentlich steht er ihm eher auf den Füßen, denn der Abstand zu dem Japaner ist zwar seit dem Garmischer Neujahrsspringen etwas gewachsen, aber immer noch minimal: 2,3 Punkte, knapp 1,4 Meter sind das umgerechnet beim Landen. Alle anderen Mitfavoriten, Olympiasieger Kamil Stoch, Weltmeister Stefan Kraft aus Österreich oder der andere Pole, Piotr Zyla, liegen entweder weit zurück oder sind schon aus dem Rennen.

Markus Eisenbichler könnte als erster deutscher Skispringer seit Sven Hannawald im Januar 2002 die Tournee gewinnen, er steht erstmals nach 15 Jahren Training und Winterreisen über alle Schanzen der Welt im Zentrum dieser Disziplin, die auf den ersten Blick so anders zu sein scheint als er selber. Aber offenbar passen der Sport und der Sportler trotzdem gut zueinander, und warum das so ist, hängt mit Siegsdorf und Ruhpolding zusammen, mit seinem ersten Trainer, mit seinem eigentlichen Naturell und auch mit Sucht.

Vergangenen Sommer, nach den Olympischen Spielen in Pyeongchang, stand er einmal am Fuße seiner alten und heute verlassenen Übungsschanze im Skizentrum Ruhpolding und erinnerte sich an die ersten Sprünge und daran, wie alles anfing. Eisenbichler war noch ein kleiner Junge, ein "Stöpsel", wie er sagt: etwas unbeherrscht, aber immer neugierig und auf der Suche nach dem Kick. Außer Eishockey versuchte er auch Langlauf, aber das gab ihm weniger einen Kick, "weil", so sagt er es heute, "ich konnte mir die Kraft nicht einteilen."

Dann aber sah er im Fernsehen Bilder von Menschen, die mit Skiern flogen, also wie Bergdohlen zu Tal segelten, 230 Meter und noch weiter, bis zu acht, neun Sekunden lang. Danach fragte der Stöpsel seinen Trainer: "Wo kann ich Skifliegen gehen?" Der sagte: "Bei uns."

Das Problem: Auch dabei muss sich der Schüler die Kraft einteilen, jedenfalls im übertragenen Sinne. Er muss Geduld haben, viel Geduld, vor allem mit sich selber. Und das ist schwierig, wenn die Schanzen wie Orgelpfeifen nebeneinander am Hang hängen: Die Ruhpoldinger Anfängerschanze, dann rechts die Zwanzig-Meter-Schanze, "die Vierz'ger, die Sechz'ger, die Neunz'ger und die Hundertzwanz'ger", wie Eisenbichler erklärt. Und in jeder Altersstufe will der Schüler sofort auf die nächsthöhere wechseln, aber der Trainer sagt nein. Und ans Skifliegen auf Monsterschanzen, klar, brauche er noch gar nicht denken.

Aber das Prinzip Fliegen blieb der Antrieb. Für Eisenbichler war es das Motiv, und lange auch ein Problem. Er genoss die Sekunden in der Luft, doch andere Bestandteile des Sports fielen ihm weniger leicht: die Technik beim Absprung, der Übergang in das Flugsystem, die Landung. Dabei muss einer, der besonders weit fliegt, auch besonders gut landen, weil der Druck auf die Beine immer größer wird. Denn irgendwann überfliegt der Springer den Punkt, von dem an er aus Angst vor einem Sturz nur noch herunter plumpst wie ein Stein, und ein Stein kriegt dann leider solch miserable Haltungsnoten, dass die ganze Weite nichts bringt.

Für Eisenbichler war dies lange ein Problem, vielleicht war es sogar sein letztes, das er nun wohl gelöst hat. Denn er hat kurz vor dieser Tournee beim abschließenden Training in Norwegen noch einmal die Landung, oder besser gesagt, den Telemark geübt. Dieser Ausfallschritt ist instabil und riskant, aber er bringt grob fünf Haltungspunkte mehr. In Norwegen wurde Eisenbichlers Flugform immer besser, immer weiter kam er - in Regionen, in denen er sonst sicherheitshalber beide Beine für die Steinlandung schließt.

Was folgte, war eine Art Erweckung. Sein Körper brauchte ein Erfolgserlebnis, damit er sich bei 110 Stundenkilometern nicht mehr gegen das riskante Landen sträubt. Nun bot sich die Chance, erzählte Eisenbichler in Garmisch, also sprang er noch mal weit nach unten, öffnete den Sprung für den Telemark und stand. "Seitdem", sagt er, "bin ich wirklich glücklich."

Das ist ein großer Fortschritt für einen Sportreisenden, der von zu Hause in Siegsdorf und im Chiemgau derart schwärmt, dass er eigentlich nur an diesem Ort "wirklich glücklich" sein kann. Niemals würde Eisenbichler wie Severin Freund oder Andreas Wellinger in die Großstadt ziehen, die Szene dort, die Kulturangebote, die Möglichkeit, Pazifisch essen zu gehen, das ist ihm eher wurscht. Eisenbichler liebt es, nach dem Winter wieder zu Hause zu sein, wo alle Verständnis haben, wenn er mal keine Lust hat zu reden.

"Ich bin eher wortkarg", sagt er, und wenn er wieder mal zu kurz gesprungen war und in der Küche saß und die Mutter doch fragte, "woran hat's denn gelegen?", dann antwortete er, "weil's net funktioniert hat", und schwieg weiter.

Mit zunehmender Karrieredauer wurden Eisenbichlers Reisen ja auch immer aufregender und anstrengender. Die Tage sind dicht geplant, alles ist getaktet, das Training, das Essen, das Nachbesprechen, das Schlafen. Die Eindrücke für den Kopf, der bei einem Skispringer ja eigentlich komplett loslassen können muss, stauen sich auf. Bei den Olympischen Spielen in Pyeongchang vor einem Jahr waren das schlechte und gute Eindrücke. Eisenbichler verpasste die Teilnahme am Teamspringen und somit wahrscheinlich auch die Silbermedaille. Aber er feierte danach im Deutschen Haus trotzdem mit, und er legte einen Schuhplattler hin, was sofort gefilmt und ein rechter Aufreger wurde, was Eisenbichler nicht verstand, denn das Plattl'n sei wirklich kein großes Ding für einen Skispringer, der gelernt hat, mit seinen Beinen umzugehen.

Das Plattl'n ist Heimat, Freunde und Familie sind Heimat, der Bauernhof, den er zusammen mit seinem Bruder ziemlich aufwendig ausgebaut hat, ist Heimat, und eigentlich der ganze Chiemgau. Wenn er heimkommt und der Schnee geschmolzen ist, dann steigt Eisenbichler auf sein Rad und fährt seine Heimat ab. Oder er schwimmt im Chiemsee, in letzter Zeit aber doch mehr in den Bergen, im Weitsee, weil da nicht so ein Menschenauflauf ist.

Aber jetzt, vor der dritten Tourneestation in Innsbruck, nicht weit von Zuhause, ist die Heimat nicht angesagt. Eisenbichler steht im Zentrum seines Sports und auch der Aufmerksamkeit von Zuschauern, die sich sonst nur für Sommersport interessieren, und er funktioniert wieder im Hochleistungstakt. Dazu gekommen ist natürlich eine viel aufwendigere Medienarbeit, zum Beispiel in der Mixed Zone, in der er, der sonst immer hinten durchgehen konnte, nun von allen internationalen Fernsehsendern angefordert wird. Abends trinkt er dann gerne eine Tasse Kamillentee, er sagt: "Ich bin froh, wenn ich im Hotel bin, auf dem Zimmer, im Bett."

Vielleicht träumt er dann immer noch ein bisschen vom Fliegen, das einen wohl süchtig machen kann, weil sich die Zeit da oben, wo man allein ist mit seinen 2,40 Meter langen Skiern, ausdehne, wo "du meinst, du bist eine halbe Minute in der Luft, dabei sind's nur sieben, acht Sekunden", was für Eisenbichler ein Gefühl ist "wie in Zeitlupe", ein Gefühl, das Nichtspringer, zum Beispiel auch Eishockeyspieler, allenfalls nachempfinden können, aber nie wirklich kennen werden.

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Quelle:
SZ vom 03.01.2019/jbe
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