Skispringen:Eine Saison zwischen Frust und Entzückung

2019 FIS Nordic World Ski Championships

Hatte in dieser Saison viel zu bejubeln: Markus Eisenbichler.

(Foto: REUTERS)

Eine genialer Abspringer aus Japan, unerwartete Sieger aus Bayern und das Ende einer Trainer-Epoche: Die Skisprung-Saison war von Extremen geprägt.

Von Volker Kreisl

Skispringen ist schwer berechenbar, manchmal spielt eine ganze Saison verrückt. Der Winter 2018/19 war von extremen Fliegertypen geprägt. Die Besten hatten auf einmal Mühe, mit einem Neuling mitzuhalten, und im deutschen Team wechselten sich Frust und Entzücken ab. Die Topleute suchten nach der Form, der Ersatz blühte plötzlich auf. Und die ganze Mannschaft erlebte schwere Momente, als einer von ihnen stürzte, oder als dann Trainer Werner Schuster den Abschied ankündigte. Am Ende dominierte sie dennoch, mit einer nicht geahnten Steigerung bei der WM. Ein Rückblick.

Der Senkrechtstarter

Im August, als die Hitze noch über den Schanzen lag und die Skispringer im Wettkampf auf Rutschmatten landeten, da hätte man eine Ahnung bekommen können. Nur, wer achtet schon im August darauf, was gerade auf einer grünen Schanze in Japan passiert? Wäre man jedenfalls am 24. August in Hakuba auf dem hohen Trainer-Podest gestanden, auf Höhe des Sprungtisches der Schanze, hätte man vielleicht geahnt, was kommt. Man hätte beobachtet, wie Ryoyu Kobayashi zwei Grand-Prix-Springen gewinnt, mit einer Technik, die so überlegen ist, dass er später auch im Weltcup allen davonfliegen würde.

Die Saison startete, und der 22 Jahre alte Japaner fing an zu gewinnen. Die alten Trainerhasen trösteten sich damit, dass sie viele Senkrechtstarter auf- und wieder absteigen gesehen hatten, aber Kobayashi gewann weiter. Er gewann die nächsten Springen, wurde mal Dritter, gewann danach wieder, und nachdem er als Siebter kurz mal schwächelte, gewann er gleich sechs Springen nacheinander. Und weil es schon Januar war, hatte er zwischendurch auch die Vierschanzentournee gewonnen.

Längst hatten die erfahrenen europäischen Trainer diesen Kobayashi studiert wie Ornithologen eine neue Vogelart. Klar war, dass das Geheimnis im Absprung liegt, in einem klappmesserhaften Rausschnellen am Schanzentisch, wodurch er sowohl hoch hinauskommt, als auch kaum Tempo verliert. Viel Fluggefühl, eine gute Landetechnik und die Leichtigkeit des Siegers kamen hinzu. Kobayashis Vorsprung im Ranking war schließlich so groß, dass die Konkurrenz die Weltcupwertung (die der Japaner später auch gewann) schon an Neujahr innerlich abhakte.

Doch dieser Sport ist diffizil und launisch, und dieser Skisprungwinter bot seine nächste Überraschung. Im Val di Fiemme in Italien wollte Kobayashi einen neuen Rekord aufstellen: Mehr als sechs Weltcupsiege nacheinander hatte noch keiner geschafft. Und die großen Gewinner der vergangenen Jahre, den Österreicher Stefan Kraft oder den Polen Kamil Stoch, hatte er ja im Griff. Aber dann kam Dawid Kubacki.

Wie zum Hohn gewinnt das deutsche Team den Wettbewerb noch

Der Hubschrauber

Kubacki, der still vor sich hin werkelnde Pole aus Nowy Targ, passt sonst nicht in eine Bilanz der Besten. Diesmal aber steht er für eine Saison, in der Abgeschriebene doch noch gewannen und perplex sowie mit einer Träne im Augenwinkel von den Gefährten über den Schnee getragen wurden. Kobayashi peilte den Rekord an, Kubacki hatte noch keinen Weltcup gewonnen, aber in Italien war es plötzlich so weit.

Kubacki übt, verbessert, experimentiert und justiert seit zehn Jahren an jenem Skispringer herum, der er selbst ist. Und es wirkt manchmal so, als wäre dieser Skispringer einer der ferngesteuerten kleinen Hubschrauber, die Kubacki ebenfalls mit großer Leidenschaft fortwährend optimiert. Wo es ihm gestattet ist, nutzt er die trainingsfreie Zeit und lässt sie durch den Himmel surren. Er hat es da fast zur Perfektion gebracht.

Der Hubschrauber Kubacki wiederum ist immer noch in der Entwicklung, trotzdem ist er in diesem Winter nach dem Weltcupsieg auch noch Weltmeister geworden. Das hing mit Verbesserungen im Startverhalten und der Luftlage zusammen, und konkret mit dem grotesken Kleinschanzenspringen bei der WM in Seefeld. Das hatte die Jury durchgepeitscht, obwohl die Bedingungen derart ungerecht waren, dass die Betroffenen später nicht druckbare Kommentare in die Mikrofone sprachen. Immer heftiger hatte es im zweiten Durchgang geschneit, immer langsamer wurde der Anlauf. Nur derjenige hatte also eine Chance, der wegen eines sehr schlechten ersten Sprunges nun sehr früh dran war und noch auf glatter Spur anlief, wie Kubacki: 27 Startplätze vor dem Führenden.

Er winkte dann und machte eine lässige Figur während seiner unendlich langen Wartezeit in der Leader-Box - und später wieder als Flieger in der Luft, durch die ihn das polnische Team zur Siegerzeremonie trug. Kubacki war der Glückspilz in diesem Winter, im Gegensatz zu David Siegel.

Der Pechvogel

Sucht einer nach dem Sportler, der in diesem Winter das maximale Pech verkörperte, dann stößt er bald auf den 22 Jahre alten Siegel, Skispringer aus Baiersbronn im Schwarzwald. Am 20. Januar lag er auf einmal gekrümmt im Schnee der Schanze von Zakopane/Polen. Sein Sturz bei der Landung und seine Verletzung verdeutlichten, wie stark Skispringer von einer umsichtigen Jury abhängen, wie schnell ihre Pläne hinfällig werden, wie sehr das die ganze Teampsyche beeinträchtigt.

Siegel gilt als derzeit bester Nachwuchsspringer im deutschen Verband; er hatte erst im vergangenen Winter eine langwierige Sprunggelenkverletzung überstanden. In Zakopane war er gerade wieder in Form gekommen, wurde zunächst Fünfter - und darauf im Teamwettkampf Opfer eines zu üppigen Anlaufs. Obwohl reihenweise Springer weit über dem berechneten Grenzwert der Schanze landeten, verkürzte die Jury nicht, und Siegel verflog sich in der Luft in jenen Landebereich, den nur Erfahrene beherrschen. Er kam zu wackelig auf, knickte weg, stürzte, wurde abtransportiert, heimgeflogen, am Kreuzband operiert. Und gab bald durch, dass er sogleich mit dem Projekt Rückkehr starten werde.

Wie zum Hohn durfte das deutsche Team dann diesen Wettbewerb noch gewinnen, unter anderem mit Siegels großer Weite, aber ohne auf dem Podium zu lächeln. In den folgenden Springen erreichten die Deutschen zunächst kein Podest mehr, die Aussichten wurden trübe. Olympiasieger Andreas Wellinger und Richard Freitag waren ohnehin schon lange formschwach, Stephan Leyhe und Karl Geiger plötzlich auch, und Siegel nun weg. Aber dann blühte Markus Eisenbichler auf.

Ein Wochenende, von dem Geiger/Eisenbichler wohl noch ihren Enkeln erzählen werden

Der Segelflieger

Er war der Dritte unter den in diesem Winter unverhofft daherfliegenden Siegern. Aber das Kapitel Eisenbichler ist vielfältiger, es handelt von der Überwindung der eigenen Zerknirschung, von der Besteigung des mächtigen Bergisels - und von einem Doppelzimmer, in dem über Jahre zwei unterschätzte Sportler auf Reisen untergebracht waren. Deshalb beginnt das Kapitel Eisenbichler auch mit Karl Geiger.

Das ist der Zimmergefährte, und mit 26 Jahren ist er ähnlich lange dabei wie Eisenbichler, 27. Mal war der eine besser, mal der andere. Auch Geiger hat Jahre gebraucht, bis er mal gewann, sein erster Weltcup-Sieg gelang ihm nun im Dezember, kurz bevor ihn Eisenbichler wieder überholte, als er wieder in prächtiger Form bei der Vierschanzentournee lange um den Sieg sprang. Und beide zusammen ließen sie dann im Januar wieder etwas nach. Aber wenn zwei Zimmergenossen dieselbe Chance haben, nicht aufgeben, abends noch über dasselbe Ziel reden, sich vielleicht noch gegenseitig motivieren, dann kriegt am Ende der eine Silber und der andere Gold.

Der Bergisel ist für routinierte Bergsteiger ein Hügel, für alle Skispringer eine Herausforderung und für die meisten DSV-Athleten ein Trauma. Die Großschanze über Innsbruck ist kurz, windanfällig und tückisch. Diesmal aber hatten Geiger/Eisenbichler, anders als in den Jahren zuvor, ein Problem weniger. Es war fast banal: Diesmal kamen sie nicht unmittelbar nach dem Tourneespringen auf der weitläufigen Garmischer Schanze in die enge Stube auf dem Bergisel, sondern sie hatten genügend Zeit, sich umzustellen. Zudem hatte Eisenbichler, der sich im Grunde auf weiten Flugschanzen zu Hause fühlt, seine selbstkritische Haltung gelockert. Sein Heimtrainer habe ihm gesagt, er solle sich mal mehr vertrauen, und er erzählte: "Am Ende hab' ich ab und zu dran geglaubt."

Was folgte, war ein Wochenende, von dem wohl Geiger/Eisenbichler noch ihren Enkeln erzählen werden, immer wieder, und vermutlich hören diese der Story immer wieder von Neuem gespannt zu, ob sie mit Skispringen was am Hut haben oder nicht. Denn das Doppelzimmer beherrschte fast komplett das Training, die Qualifikation, den ersten Durchgang, den zweiten Durchgang, und es war auch prägend beim Sieg des Teams kurz darauf. Es war ein Durchbruch in beiden Karrieren, er wirkte surreal wie ein Traum, wozu die tief stehende Spätwintersonne beitrug, als sie in die Gesichter der blinzelnden Deutschen und ihrer Entourage ihr gelbes Licht strahlte. Mittendrin: Werner Schuster, der Trainer.

Der Kontrollturm

Die Skisprungsaison 2018/19 ist auch deshalb so außerordentlich, weil sie das Ende einer Ära markiert. Am Sonntag, gegen 12 Uhr, wird Werner Schuster in Planica/Slowenien seinen Posten als Bundestrainer auf dem Trainerstand, auf Höhe des Sprungtisches, räumen. Am Freitag durfte er noch mal dort oben jubeln, denn Eisenbichler fügte seinen WM-Siegen einen weiteren ersehnten Erfolg hinzu: den ersten Weltcupsieg. Oft hatte Kobayashi ihn noch verdrängt, diesmal nicht. Ein Team- und ein Einzelfliegen folgen noch, dann packt Schuster ein. Viel ist das nicht, Skisprungtrainer brauchen kaum mehr als eine Fahne, ein Funkgerät und einen Notizblock. Das Wesentliche haben sie im Kopf.

Elf Jahre lang war der Österreicher Schuster Cheftrainer der Deutschen, der von oben alles überwachte und so gut es ging steuerte. Weil ihn grundsätzlich der lange und geduldige Neuaufbau veralteter Strukturen reizt, passte Schuster 2008 perfekt zur kriselnden Skisprungabteilung. Er verpasste den Deutschen eine Idee, ein System und den Sportlern eine reelle Vision. Daraus entstand zwar kein alles überragender deutscher Ober-Star, dafür ein ganzer Haufen Talente, die irgendwann große Medaillen als Team gewannen, und fünf von ihnen auch solo - Freund, Wellinger und zuletzt Eisenbichler sogar die eine oder andere aus Gold.

Womöglich wird der Österreicher Stefan Horngacher die Nachfolge des Österreichers Schuster antreten, vielleicht auch nicht. Doch wer auch immer es sein wird, er dürfte mit dieser solide ausgebildeten Mannschaft viel Spaß haben, selbst wenn die kommenden Winter weniger spektakulär werden als dieser.

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