Skispringen:Bibbernd in der Box

"System overload": So cool Andreas Wellinger sich die Goldmedaille auf der Kleinschanze erkämpft hat, so fassungslos gibt sich der 22 Jahre alte Deutsche danach.

Von Volker Kreisl

Die Sekunde, in der die Ski wieder festen Boden berührten, steckte voller Eindrücke. Andreas Wellinger erzählte, wie er sich darüber klar wurde: "Geiler Sprung!" Wie die grüne Linie des Führenden unter ihm weg flog, er weit nach unten kam, wie er im Ausfallschritt stabil landete und den Körper langsam aufrichten konnte. Dann schwenkte sein Blick zur Videotafel, auf der sein Trainer Werner Schuster die Arme in Richtung Mond riss, sodass sich Wellinger kurz fragte: "Hat er sich die Schulter ausgekugelt?" Er bremste, schnallte die Skier ab, dann, berichtete er, sei sein Kopf leer gewesen, alle Gedanken waren abgestürzt: "System overload."

Übrig blieb eine Art Energiespar-Modus. Wellinger fand sich in der Leaders Box wieder und nahm nur noch das Wichtigste wahr. Er bibberte, jedoch nicht wegen der Kälte von minus 13 Grad Celsius, nachts um 0.22 Uhr, sondern wegen der Wartezeit. Siege von unten, also aus der Perspektive der Führenden-Ecke, bergen noch mal eine Extra-Portion Spannungsfolter: "Das ist mit das Schlimmste für Sportler", sagt Wellinger.

Vier standen noch oben. Nach zweien - einer davon war sein Teamgefährte Richard Freitag - hatte Wellinger Bronze sicher. Nach dem nächsten war Silber garantiert, und Wellinger ging auf die Knie, das Gesicht in den Händen. Oben saß jetzt nur noch Stefan Hula, der Pole, dem im ersten Durchgang ein Ausreißer-Sprung gelungen war, der gut, aber noch nicht stabil ist, und der, das wusste man jetzt, vor einer extrem hohen Hürde stand. Hula wirkte unruhig, sprang und landete. Wellinger war Olympiasieger.

Pyeongchang 2018 - Skispringen

Stabiler Luftstand: Andreas Wellinger brachten seine Haltungsnoten einen Vorsprung von zweieinhalb Punkten ein – das entschied am Ende zugunsten des 22 Jahre alten Deutschen aus Weißbach bei Ruhpolding.

(Foto: Helmut Fohringer/dpa)

Auf die Fragen, wie er sich fühle, was dies bedeute, worauf dies zurückzuführen sei, und ob er jetzt auch noch auf der Großschanze am Samstag gewinnen könne, antwortete er später im wesentlichen mit dem Overload-Hinweis: "Ich kann's noch nicht fassen." Dass dieser ewig spaßende und bayernde 22-Jährige aus Weißbach bei Ruhpolding zuvor von einem Heulanfall geschüttelt worden war, das sagte ohnehin alles. Im Laufe der nächsten Stunde ergaben sich dann doch Gespräche und daraus resultierend das Gesamtbild, dass auf der Kleinschanze von Pyeongchang einer aus seiner jugendlichen Verpuppung gehüpft und im Leben gelandet ist.

Der Abend verlangte nicht nur ihm alles ab, es war ein Olympiaspringen der Extreme, wie es die Spiele noch nicht erlebt haben. Knapp drei Stunden zog es sich hin; es wurde immer kälter, immer windiger und der Wettkampf immer langsamer. Im Weltcup wird der zweite Durchgang irgendwann abgebrochen, es gewinnt eben der Führende des ersten. Olympiasieger sollen so nicht entstehen, sie sollen aber auch nicht vom Wind begünstigt sein. Also reizte die Jury diesmal die Wartezeit für günstigen Wind voll aus. "Kein Springen länger als ein Fußballspiel" - das ist eigentlich die Devise von Renndirektor Walter Hofer, sonst gingen die Zuschauer nach Hause. Dieses dauerte doppelt so lange - und keiner ging nach Hause.

Wellinger, Bundestrainer Schuster und die anderen im deutschen Team erlebten die übliche Achterbahnfahrt des Springens. Die Mannschaft begann ordentlich, dann stand Wellinger oben, der Qualifikationssieger, von dem man den Durchbruch erwartete, der im Training schon 112 Meter erreicht hatte. Aber im ersten Durchgang tropfte er doch wieder zu früh herunter. Die grüne Linie, die Hulas Bestweite markierte, erreichte er nicht; Schuster hatte einen Fluch auf den Lippen.

War das doch wieder der fahrlässige Wellinger? Er hat keine leichten Entwicklungsjahre hinter sich. Nach dem plötzlichen Auftauchen beim Team-Olympiasieg in Sotschi 2014 nahm ihn ein prominenter Sponsor unter Vertrag, die Fans schauten beim nächsten Saisonstart auf den jungen Aufsteiger, die Vermarkter suchten ein neues Postergesicht. Wellinger startete vielversprechend, sprang aber in Kuusamo zu wild, stürzte auf den Rücken, verletzte sich die Schulter und war erst einmal weg. Es dauerte mehr als zwei Jahre, bis er wieder auf ein Podest stieg. Bei der Tournee 2016/2017 gelang ihm plötzlich der Schanzenrekord in Bischofshofen, danach sprang er stabil nach vorne, blieb aber hinter dem Österreicher Stefan Kraft meistens Zweiter.

Medal Ceremony - Winter Olympics Day 2

Schmuckstück: Andreas Wellinger mit seiner Plakette.

(Foto: Andreas Rentz/Getty)

Was ihm fehlte, war die letzte Konsequenz. Wellinger spricht von dem Unterschied zwischen gut und sehr gut. Das klingt so leicht wie das kleine Einmaleins, aber den wahren Unterschied zwischen gut und sehr gut kapiert man nicht in einer einzigen Schulstunde oder in einer einzigen Trainingseinheit.

Seit zweieinhalb Jahren trainiert Wellinger unter Heimcoach Christian Winkler, und er sagt: "Bei ihm gibt's selten ein sehr gut, der Winki tritt mir jede Woche in den Arsch." So begann Wellinger immer nach der perfekten Ausführung zu streben, nicht nur im Finale, sondern bei jeder Bewegung auf der Schanze oder im Kraftraum. Mittlerweile hat Winklers Credo auf ihn abgefärbt. "Auch ich", sagt er, "will nicht mehr nur 'gut', sondern 'sehr gut'."

Weil es eben Jahre dauert, bis aus einem luftigen Talent ein selbstbestimmter Mensch wird, der sich nicht mehr von Interessensvertretern und falschen Freunden lenken lässt, sondern selber lenkt, muss Wellinger weiterhin Geduld haben. Er steht wohl mit beiden Beinen im Leben, aber der Prozess des Reifens geht weiter. "Er ist auf dem guten Weg zu einem echten Profi", sagte Schuster am nächsten Morgen über den Olympiasieger. Dessen Form verläuft immer noch wellenförmig, und deshalb ist es nützlich, dass Wellinger diese ausgeprägte Fähigkeit zum Konter hat.

Mit seinem zweiten Sprung ist er in diesem Winter schon einmal von Platz 21 aus aufs Podest gekommen. Er zählt schon seit einem Jahr zu jenen seltenen Schanzensportlern, die sich trotz eines kleinen Rückschlages wieder voll auf die bevorstehende Aufgabe konzentrieren, die weit fliegen können und dann auch noch elegant landen. Die entsprechenden Haltungsnoten haben ihm zweieinhalb Punkte Vorsprung eingebracht, das hat am Ende entschieden.

Es ging also wie in seiner Karriere auch in diesen ersten Tagen von Pyeongchang hoch und runter und wieder hoch bei Andreas Wellinger. Und dann, in der Leaders Box, noch einmal in die Knie und schließlich ganz hinauf aufs Podest.

Die Skisprung-Olympiasieger von der Normalschanze

1924 Jacob Tullin Thams (Norwegen)

1928 Alf Andersen (Norwegen)

1932 Birger Ruud (Norwegen)

1936 Birger Ruud (Norwegen)

1948 Petter Hugsted (Norwegen)

1952 Arnfinn Bergmann (Norwegen)

1956 Antti Hyvärinen (Finnland)

1960 Helmut Recknagel (Steinbach-Hallenb./ gesamtdeutsche Mannschaft)

1964 Veikko Kankkonen (Finnland)

1968 Jiří Raška (Tschechoslowakei)

1972 Yukio Kasaya (Japan)

1976 Hans-G. Aschenbach (Brotterode/DDR)

1980 Anton Innauer (Österreich)

1984 Jens Weißflog (Oberwiesenthal/DDR)

1988 Matti Nykänen (Finnland)

1992 Ernst Vettori (Österreich)

1994 Espen Bredesen (Norwegen)

1998 Jani Soininen (Finnland)

2002 Simon Ammann (Schweiz)

2006 Lars Bystøl (Norwegen)

2010 Simon Ammann (Schweiz)

2014 Kamil Stoch (Polen)

2018 Andreas Wellinger (Ruhpolding/Deutschland)

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