Skiflug-Weltmeisterschaft:Im Hochgefühl

Skiflug-Weltmeisterschaft: Zurück in der Luft: Der genesene und wieder formstarke Daniel Andre Tande, zuletzt Weltcupsieger am Holmenkollen bei Oslo

Zurück in der Luft: Der genesene und wieder formstarke Daniel Andre Tande, zuletzt Weltcupsieger am Holmenkollen bei Oslo

(Foto: Terje Bendiksby/AFP)

Bei der Weltmeisterschaft in Vikersund ermitteln die Skispringer ihre besten Flugkünstler. Wieder dabei: der vor Jahresfrist schwer gestürzte Norweger Daniel Andre Tande.

Von Volker Kreisl, Vikersund/München

Es muss sich anfühlen wie die Wirkung einer Droge. Das Empfinden verändert sich, trotz des Tempos dehnt sich die Zeit, Glückshormone fließen. Wenn Skiflieger diesen Rausch immer wieder suchen, dann ähnelt das Skifliegen fast einer Sucht.

Die Skiflug-WM, alle zwei Jahre, ist ein Fest für die Segler der Lüfte. Anders als im Weltcup wird der Sieger an diesem Wochenende über vier Durchgänge ermittelt. Zudem ist in diesen Tagen, die mit den ersten beiden Einzel-Durchgängen am frühen Freitagabend begannen, eine weitere Steigerung geboten. Denn diese WM findet auf der derzeit größten Skiflugschanze statt, jener in Vikersund in Norwegen, auch Monsterbakken genannt. Große Weiten sind zu erwarten, eine beachtliche Anzahl an Zuschauern - und Daniel Andre Tande.

Dem Norweger aus Narvik am Polarkreis gilt zurzeit eine besondere Aufmerksamkeit, ähnlich der für die Führenden am Freitag, bei Halbzeit dieser WM, Marius Lindvik (Norwegen) und Stefan Kraft (Österreich). Denn Tandes jüngere Geschichte vereint alles, was diesen Flugsport kennzeichnet: die große Verführung, die Restgefahr, auch den Willen, trotz eines üblen Sturzes irgendwann weiterzufliegen. Für ihn, der zur Halbzeit ebenso abgeschlagen ist, wie die deutschen Springer (Karl Geiger als Bester liegt bereits 38 Punkte zurück), geht es immer noch um einen langsamen Wiederaufbau.

Er war in Ohnmacht gefallen, für fast drei Minuten setzte sein Puls aus

Tande, Skiflugweltmeister von 2018, tritt nicht auf wie ein Gefahrensucher, er scheint jeden Satz abzuwägen und wirkt auf der Schanze oft besonders konzentriert. Und doch unterlief ihm am 25. März 2021 auf dem Flugbakken in Planica/Slowenien im entscheidenden Sekundenbruchteil dieser Fehler. Tande stellte die Skier nach dem Absprung eine Nuance zu steil, womit er bremste. Er beschloss, dies zu korrigieren, drückte die Spitzen nach vorne, jedoch die linke etwas zu stark. Sein System geriet aus der Balance, Tande verlor sein Luftkissen, stürzte aus rund neun Metern Höhe auf den Vorbau. Dabei zog er sich Prellungen und Knochenbrüche zu, fiel in Ohnmacht und erzählte später, er habe für zweieinhalb bis drei Minuten keinen Puls gehabt, ehe ihn die Ärzte notversorgten.

Er ist also noch einmal zurückgekommen. Im Krankenhaus, so berichtete Tande, habe er viel geweint, nachdem er seine engen Angehörigen wiedergesehen hatte. Später hatte er wieder und wieder die Zeitlupensequenz seines Sturzes betrachtet und analysiert, um seinen Fehler zu verstehen, weil er an den Sturz keine Erinnerung hatte.

Und dann kam sie wieder, die Sehnsucht nach dem Fliegen.

Dass er nun ein Jahr später, bei der ersten Skiflug-Gelegenheit, auch noch auf dem berüchtigten Monsterbakken, auf dem der Weltrekord von 253,5 Metern gesprungen wurde - dass er dort also schon wieder einsteigt, ist durchaus schlüssig. Auch havarierte Skispringer müssen schnell das Trauma überschreiben, und Tande hatte ja in diesem Winter schon Fortschritte gemacht. Anfang Dezember wurde er wieder auf einer gewöhnlichen Großschanze Zweiter, vergangenes Wochenende gewann er in Oslo sogar wieder einen Weltcup, den ersten in dieser Saison - was er selber noch nicht ganz verstand: "Krank" sei das, "zu Hause am Holmenkollen zu gewinnen, besser wird's nicht." Fürs Einzel-Fliegen in Vikersund qualifizierte er sich am Donnerstag auf Platz 22, seine Bestweite betrug etwas über 200 Meter. Das deutet auf Vorsicht hin, zu den Favoriten zählt Tande nicht. Noch nicht.

Skifliegen ist wie Ritzen, sagt der Psychologe - nur deutlich gesünder

Ohnehin steckt hinter den Motiven dieses Rausches deutlich mehr als die Jagd nach dem nächsten Platz auf dem Treppchen. Der Sportpsychologe Oskar Handow vermutet gar einen Zusammenhang mit den Mängeln in der modernen Gesellschaft. Das Grundbedürfnis, sich selbst zu spüren, werde immer weniger befriedigt, der Ersatz durch Medien genüge nicht. Im schlimmeren Fall würden sich Jugendliche etwa ritzen, sich verletzen. Auf gesündere Art - zumindest meistens - erlebten Sportler sich selbst, etwa die Skiflieger oben in der Luft.

Der Flug selbst ist somit das Ziel, und wer diesen besonders gut gestalten kann, so wie Geiger und Kraft, der hat gute Chancen, auch eine Medaille mitzunehmen: Die besten Flieger legen sich auf ihr Polster und spüren mit Händen, Armen, Beinen und Füßen der anströmenden Luft nach, die sie vielleicht noch etwas weiter nach unten tragen könnte. Es geht dabei, so berichten die Zeugen der Luft, gar nicht mal um irgendeine Anstrengung, sondern um eine ganz selbstverständliche Reaktion. Denn zu fliegen, nur auf zwei Latten, so schnell wie auf der Autobahn - dieses Gefühl soll nicht aufhören.

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