Skifliegen:Wo der Adler kreist

Skifliegen: Pfanne statt Topf: Die neue Heini-Klopfer-Schanze mit flacherem Auslauf.

Pfanne statt Topf: Die neue Heini-Klopfer-Schanze mit flacherem Auslauf.

(Foto: OH)

Fünf Tage im Jahr Wettkampf, 360 Tage eine Touristen-Attraktion: Für die WM 2018 ist die Oberstdorfer Schanze kostspielig renoviert worden.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf

Schaut man senkrecht nach unten, dann sieht man Bäume. Sehr kleine Bäume - denn es geht von hier oben mehr als 70 Meter hinunter. Das zieht im Magen, aber wenn der Skiflieger den Blick nach vorne richtet, wird es auch nicht besser. Der Anlauf erstreckt sich vor ihm auf einer Länge von 122 Metern, und weil die Landezone hinter dem Sprungtisch verborgen ist, kann er nicht absehen, wohin die Reise genau geht. Klappt alles, mindestens 200 Meter weit. Die Frage drängt sich auf: Muss das unbedingt sein?

Aber Skiflieger sind ja keine Schwimmer in Badehose, die vom Zehn-Meter-Turm wieder herabsteigen - auch wenn manche tatsächlich unter Höhenangst leiden, wie der norwegische Gesamtweltcup-Zweite Daniel Andre Tande. Unangenehm, hat er einmal erzählt, seien die Treppenstufen, auf denen man die Schanze von Zakopane in Polen erklimmt, die sind nämlich aus Gitter. Aber er hat das nun im Griff, er schaut einfach immer geradeaus. Somit überwiegt für ihn in dem Sport, in dem man ständig zwischen den Polen pendelt, zwischen Angst und Euphorie, eindeutig die Euphorie.

Dieses Austarieren von Gefahr und Verzückung, die Suche nach dem Kompromiss zwischen dem gerade noch vertretbaren Risiko und einer guten Show ist das Grundthema des Skispringens. Deutlich wird es generell im Skifliegen, und im Besonderen gerade an der gewaltigen Heini-Klopfer-Schanze im Wald südlich von Oberstdorf.

Die ist soeben freigegeben worden nach einjähriger Sanierung. Am Samstag und Sonntag finden dort die ersten beiden Flug-Weltcups des Winters statt, weitere wird es noch auf den Riesenbakken in Vikersund/Norwegen und Planica/Slowenien geben. Es sind zusammen mit der Weltmeisterschaft in Lahti/Finnland die Höhepunkte der zweiten Winterhälfte. Und schon in Oberstdorf deutet sich ein grandioses und zugleich auch etwas absurdes Schauspiel an. Die Schanze wird einerseits gut gefüllt sein, in die neue Arena passen 24 000 Zuschauer. Andererseits wird sie eben nur an diesem Wochenende gut gefüllt sein, denn nur da lohnt sich die aufwendige Schnee-Präparation eines Fußballfeldes in 35 Grad Schräglage. "Fünf Tage im Jahr gibt es Skifliegen, 360 Tage im Jahr eine Touristen-Attraktion", sagt Peter Krujer, der Vorsitzende des Skiclubs Oberstdorf. Fünf zu 360 also. Weil demgegenüber die Renovierung rund zwölf Millionen Euro gekostet hat, fragten sich die Geldgeber aus Bund und Land erst einmal: Muss das unbedingt sein?

Oberstdorf hatte bereits den Zuschlag für die Skiflug-WM 2018, man kalkulierte ursprünglich nur mit ein paar Schönheitsreparaturen, wurde aber von den Sportlern schlichtweg überholt. Deren Sprung- und Flugstil ist heute derart offensiv und risikofreudig, dass die alte Form der Schanze immer mehr zur Gefahr geworden wäre. Kurz gesagt flog man früher aus großer Höhe in einen Topf hinunter, die heutigen Segler aber, mit ihren modernen Anzügen und Skispitzen auf Ohrenhöhe, brauchen mehr Platz, eher eine Pfanne. Damit musste alles neu konzipiert werden. Anlauf und Radien wurden verändert, die besten Flieger werden nun im Durchschnitt auf 225 Meter kommen.

Der Umbau war also geboten, aber braucht man überhaupt so einen Riesen im Wald? Es gibt sicherlich vernünftigere Dinge im Leben als das Skifliegen, weshalb Krujer und seine Mitstreiter gut argumentieren mussten. Das beste Argument war die eigene Geschichte, die lokale Identifikation. Die Schanzenpioniere Sepp Weiler, Heini Klopfer und noch einige andere hatten sie ja 1950 gebaut, weil sie nach dem Krieg noch von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen waren, sie durften also nicht auf die großen Schanzen - wollten aber auch fliegen. Und weil sie auch Ahnung hatten, weil sie zum Beispiel die Thermik dort suchten, wo der Adler kreist, wie Krujer erzählt, steht diese Schanze bis heute.

Die Oberstdorfer hatten aber nicht nur gefühlige, sondern auch vernünftige Argumente zu bieten. Mit ihrer Anlage wäre schließlich eine von weltweit nur fünf Flugschanzen stillgelegt worden - es gibt zudem noch eine in Harrachov/Tschechien und die am Kulm in Österreich. Außerdem könnte der Neubau mit modernem Lift und Nervenkitzel in 70 Metern Höhe für Touristen ein Anziehungspunkt werden. Schließlich sei das Skifliegen tendenziell nicht gefährlicher als das Skispringen oder alpines Abfahren, sagt Krujer, der zudem Orthopäde ist und früher die medizinische Betreuung der Oberstdorfer Weltcups leitete. Was trotz aller Verbesserungen und Anpassungen bleibt, ist jenes Restrisiko, das der Springer bewusst eingeht. Daniel Andre Tande hat immer seine Ausrüstung überprüft und dennoch hatte sich sein Bindungsstab dieses Jahr in Bischofshofen in der Luft gelöst.

Man bewegt sich also trotz guter Argumente nicht vollständig im Rahmen der Vernunft. Das Skifliegen mit seinen besonders hohen Geschwindigkeiten in der Luft, mit seinen besonderen Kräften bei der Landung, es muss nicht unbedingt sein. Aber es ist Attraktion, die sich die Sparte gönnt.

In Oberstdorf kommt der Zuschauer aus dem Wald, tritt auf eine Lichtung, bleibt stehen, legt den Kopf eine Weile in den Nacken und staunt. Auf der neuen Heini-Klopfer-Schanze wird nun viele weitere Jahre skigeflogen, bis zu dem Tag, an dem sich dieser Sport weiter entwickelt hat, bis die Anlage womöglich wieder zu gefährlich ist und abermals renoviert werden muss.

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