Süddeutsche Zeitung

Skifahrer Henrik Kristoffersen:"Herr im Himmel, unglaublich, krank"

Von wegen Hirscher oder Neureuther: Aus dem Duell um Slalom-Gold in Sotschi ist dank Henrik Kristoffersen ein Dreikampf geworden. Wer ist der schlaksige Norweger, der so unbekümmert fährt und die Medaillenprojekte der Etablierten gefährdet?

Von Johannes Knuth

Henrik Kristoffersen streicht sich die wasserstoffblonden Strähnen aus dem blassen Gesicht, im ersten Moment wirkt es, als habe sich ein 15-Jähriger vor die Fernsehkameras verirrt. Tatsächlich handelt es sich um einen gewissen Henrik Kristoffersen aus Norwegen, und dieser schmächtige 19-Jährige soll nun in Worte fassen, was er da gerade vollbracht hat: erster Sieg beim Nachtslalom vor einer Woche in Schladming, erster Sieg im Weltcup überhaupt, Marcel Hirscher und Felix Neureuther geschlagen, den wohl besten und den zweitbesten Slalomfahrer der Welt.

Kristoffersen sinniert kurz über sämtliche irdischen und überirdischen Kräfte, die ihn beflügelt hatten, dann sagt er: "Herr im Himmel, unglaublich, krank."

Vom sportlichen Aspekt her könnte man diese Analyse so übersetzen: Aus dem Zweikampf um olympisches Slalom-Gold bei den Winterspielen ist ein Dreikampf geworden. Neben dem Österreicher Hirscher und dem Deutschen Neureuther bewirbt sich nun auch Kristoffersen in Sotschi ums Podest; auch dem Franzosen Alexis Pinturault wird eine Medaille zugetraut.

"Ich weiß, dass ich dem Gerede um die Medaillen nicht ausweichen kann", sagt Kristoffersen. Er weiß aber auch, dass er gegenüber den anderen einen großen Vorteil genießt.

Die Geschichte von Henrik Kristoffersen beginnt vor rund sieben Jahren, sie beginnt mit einem gewissen Marcel Hirscher. Vor sieben Jahren carvte Hirscher zum ersten Mal die Weltcuphänge hinunter, er war nicht der Schnellste, aber die Experten raunten. Dieser junge Österreicher fuhr einen spektakulären Schwung, er kantete die Skier so sauber auf, dass es hinter ihm aussah, als habe jemand zwei feine Linien in den Schnee gemalt. "Damals war es mir völlig Banane, ob ich ausscheide", sagte Hirscher vor kurzem dem Standard. "Hauptsache, ich hatte Spaß." Der Anlass, warum Hirscher von seinen Anfängen erzählte: Henrik Kristoffersen.

2012 gewann Kristoffersen Gold (Riesenslalom) und zwei Mal Silber (Slalom, Kombination) bei der Junioren-WM. Im selben Jahr fuhr er seine ersten Weltcup-Rennen, zunächst mit hohen Startnummern, wie Hirscher. Er pendelte irgendwo zwischen Platz 11 und 25, aber die Experten raunten, wie einst bei Hirscher. Ein "Jahrhunderttalent", urteilte Wolfgang Maier, Sportdirektor des Deutschen Skiverbands.

Kristoffersen hat dünne Oberschenkel, er wirkt unterlegen im Vergleich zu den Konkurrenten mit den Kühlschrank-Kreuzen. Aber er hat ein gutes Gespür für das Terrain, für die äußeren Bedingungen. Er weiß, wann und wie sehr er beschleunigen muss. Er scheidet selten aus, das ist in einer technisch komplexen Disziplin wie Slalom fast ein Alleinstellungsmerkmal. Wenn er zum Schwung ansetzt, rutscht er nicht, er kantet den Ski sauber in den Hang. Er bremst nicht, während er lenkt, er beschleunigt. Wie Hirscher.

Was seine Taktik gewesen sei, wurde Kristoffersen nach dem Rennen in Schladming gefragt: "Gas geben, Gas geben", sagte er, "Tempo, Tempo."

Vor dieser Saison hatte sich Kristoffersen eine niedrige Startnummer erarbeitet, er fuhr nun mit den Besten in einer Startgruppe, und das nutzte er aus. In Levi, im ersten Slalom der Saison, wurde er Dritter, in Val d'Isère 14., in Bormio Siebter. Dann Rang drei in Adelboden, Platz 15 in Wengen, ein Ausreißer, Platz zwei in Kitzbühel. "Er hat den sechsten Gang gefunden", sagt sein Trainer Christian Mitter.

In Schladming erwarteten 50 000 Zuschauer einen Sieg von Hirscher. Als der Österreicher im zweiten Durchgang zur Bestzeit jagte, tobte die Menge, Pyrofackeln brannten. Kurz darauf war Kristoffersen an der Reihe, er begann mit einem Fehler, doch mit jedem Schwung in der rauchgeschwängerten Luft wurde er schneller und die Zuschauer leiser. "Wenn ich fahre, bin ich irgendwie in meiner eigenen Welt. Ich versuche, alles andere auszublenden", sagt Kristoffersen und fügt an: "Zurzeit gelingt es mir."

Hirscher und Kristoffersen sind im Grunde zwei baugleiche Typen, beide auf der Suche nach der schnellsten Linie, doch sie sind unterwegs in zwei Welten: Hirscher wird von Bodyguards bewacht, er posiert in Unterhosen für Sportmagazine, wenn er Ski fährt, schalten in Österreich mehr Menschen den Fernseher an als beim "Tatort". Kristoffersen hat keine Bodyguards, er ist kein Fotomodel, er fährt einfach nur Ski, so unbeschwert, wie Hirscher damals fuhr.

Die norwegischen Medien werden zwar langsam aufmerksam, "Olympiakomet", titelte die Tageszeitung Aftenposten nach Schladming. Aber die Erwartungen haben sich noch nicht über Jahre angestaut, wie bei den anderen. Wenn Hirscher in Sotschi nicht Gold holt, werden sie schreiben: enttäuschend. Wenn Neureuther keine Medaille holt, wird es in Deutschland heißen: Ziel verfehlt. Henrik Kristoffersen sagt: "Das sind meine ersten Olympischen Spiele. Wenn ich alles gebe und Vierter werde, bin ich happy."

Oder wie Finn Christian Jagge es formulierte, der Slalom-Olympiasieger von 1992: "Die anderen haben Angst vor ihm - aber er nicht vor ihnen."

Er denke nicht an Gold, Silber oder Bronze, sagt Kristoffersen noch, "ich denke nur daran, wenn ihr Journalisten mich fragt". Und woran denkt er in der Zwischenzeit? "An wichtige Dinge", sagt der 19-Jährige, "wie ich noch schneller fahren kann, ans nächste Rennen".

Die nächsten Rennen finden übrigens in Sotschi statt.

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