Der erste Gedanke: Steh auf. Steh verflixt noch mal auf, denn das sehe doch total fürchterlich aus, dachte sich Mikaela Shiffrin: wie sie da im Zielraum lag, verlassen von allen Kräften, und die nächste Läuferin rauschte schon den Hang hinunter. Aber irgendwie kam Shiffrin dann doch auf die Beine, wie eine Boxerin nach einem Tiefschlag. Währenddessen war Anna Swenn-Larsson, die vorletzte Starterin, tatsächlich schon ganz schön weit gekommen mit ihrer Fahrt. Die Schwedin trug die Hoffnungen der rund 15 000 Zuschauer mit sich, die am Samstag nach Are gekommen waren, und als Swenn-Larsson über die Ziellinie rauschte, plumpste auch sie entkräftet zu Boden - aber die 27-Jährige konnte ihre Erschöpfung schon ein wenig mehr genießen: klar, sie war knapp hinter Shiffrin gelandet, aber eine Medaille war ihr sicher. Die erste für die Gastgeber dieser WM übrigens.
Es war ein packendes Finale, das der Frauen-Slalom am Samstag bei der WM in Are nahm, aber das war dem Anlass nur angemessen. Zum einen übertrafen sich Shiffrin, Swenn-Larsson und die drittplatzierte Petra Vlhova mit einer famosen Leistung nach der anderen. Zum anderen war da die historische Dimension: Shiffrin gewann am Samstag ihr viertes WM-Gold im Slalom - vier interkontinentale Titel in einer Disziplin, das hatte bislang nur eine gewisse Christl Cranz aus Deutschland in den 1930ern geschafft, im Slalom und in der Kombination. Und vier WM-Hauptgewinne in Serie, so wie Shiffrin das von 2013 bis 2019 nun vollbracht hat, war noch überhaupt keinem Skiprofi gelungen, weiblich oder männlich. Ach so, und die meistprämierte Athletin dieser WM ist Shiffrin nun auch ganz offiziell, dank ihres Titels im Super-G vor einer Woche und Platz drei im Riesenslalom.
"Toter Schnee" erwartete die Fahrerinnen
Auch wenn sich Shiffrin das am Samstagmorgen alles schwer hatte vorstellen können, so kränkelnd wie sie in den Tag gezogen war.
Die Bedingungen in Are waren am Samstag wieder einmal kompliziert gewesen: Der warme Schnee war mittlerweile zu einer kompakten Auflage zusammengepresst worden, die bei jedem Schwung aufspritzte. "Toter Schnee" nennen das die Skirennfahrer, und je später man im ersten Lauf an der Reihe war, desto toter wirkte der Hang. Die Schweizerin Wendy Holdener erzielte zunächst die beste Zeit, Swenn-Larsson und Shiffrin lagen hauchdünn dahinter, die Österreicherin Katharina Liensberger und Vlhova hatten schon ein wenig Rückstand. Christina Geiger wiederum lag als Siebte und beste Deutsche nur 1,51 Sekunden hinter der Spitze, das war beachtlich und bestätigte erneut die These, dass sie in den vergangenen Wochen zu einer neuen Stabilität gefunden hat. "Ich versuche mein Bestes noch mal auszupacken, die Vorderen müssen auch erst fehlerfrei runterkommen", sagte sie - solche Ansagen hatte man von ihr lange nicht vernommen.
Im zweiten Lauf war es Vlhova, die den Reigen der Favoritinnen eröffnete, sie toppte die Zeit von Olympiasiegerin Frida Hansdotter um mehr als eine Sekunde. Liensberger fiel zurück, wieder ein vierter Platz für die österreichischen Frauen, die Are ohne eine Medaille verließen. Dann Shiffrin: Wie im Rausch im oberen Teil, als werde sie an jedem Tor von einer Windböe angeschoben, zur Hälfte lag sie über eine Sekunde vor Vlhova. Und dann, sagte Shiffrin, sei ihr "die Luft weggeblieben. Da habe ich nur noch darum gekämpft, auf den Beinen zu bleiben". Das schaffte sie dann auch, irgendwie.
Sie habe wohl "eine leichte Lungenentzündung", mutmaßt die Siegerin
Sie habe sich einfach nur für die Dauer des einminütigen Laufes zusammengerissen, sagte sie später, mit glasigen Augen und kratziger Stimme. Dann vermutete Shiffrin noch, dass sie wohl "eine leichte Lungenentzündung" habe, denn: "Ich kann kaum atmen, ohne zu husten." Andererseits, fand die 23-Jährige, habe sie das alles auch von all den Dingen abgelenkt, die sie vor einem Rennen für gewöhnlich nervös machen. "Vielleicht", sagte Shiffrin, "war ich so schneller, als wenn ich gesund gewesen wäre". Weder Swenn-Larsson kam zumindest an ihre Zeit heran, noch Holdener, die nach dem ersten Lauf geführt hatte und im zweiten patzte.
Wie sinnvoll so eine Slalomfahrt mit Lungenentzündung ist, ist die eine Frage. Andererseits dürfte sich Shiffrin am Samstag darin bestätigt gefühlt haben, dass sie ihr Programm in Are auf drei Rennen beschnitten hatte: Super-G, Riesenslalom, Slalom. Das hatte ihr im US-Lager zuletzt Kritik eingebracht, Shiffrin hätte locker auch in der Kombination gewinnen können, hatten Bode Miller und Lindsey Vonn zum Beispiel gesagt. Shiffrin hatte das vor einer Woche höflich gekontert: Einfache Siege gebe es nicht, und überhaupt: "Viele Menschen sehen nur Rekorde und Statistiken. Aber diese Nummern rauben dem Sport seine Menschlichkeit und den riesigen Aufwand, der hinter jeder Leistung steckt. Ich kann keinen WM-Titel als gegeben ansehen, jedes Rennen ist ein großer Kampf."
Der Samstag war dafür wohl der beste Beweis.
Und die Deutschen: Die hatten mit der Entscheidung dann doch weniger zu tun als erhofft. Lena Dürr stieß noch auf den elften Rang vor - allerdings hatte sie nach einem verschlafenen ersten Lauf mehr als vier Sekunden Rückstand auf Shiffrin, "das ist schon brutal", befand Dürr. Und Geiger lag bis kurz vor dem Ziel hervorragend im Rennen, sie wäre wohl Siebte geworden - hätte sie nicht im Zielhang einen Schlag erwischt. Rennen vorbei. "Ich wollte da trotzdem Vollgas geben, bei einer WM muss man einfach riskieren", machte Geiger zurecht geltend. So, wie es auch die Besten getan hatten, mit oder ohne Lungenentzündung.