Süddeutsche Zeitung

Ski-WM 2011: Marc Girardelli im Interview:"Im Prinzip wartet jeder drauf, dass es einen zerlegt"

Der frühere Weltklasse-Rennläufer Marc Girardelli über die Unfallserie im Ski Alpin, Abfahrten mit 2,25 Meter Latten und ein paar Braunbären an der Strecke.

Interview: Thomas Hummel

Marc Girardelli, 47, ist einer der erfolgreichsten alpinen Ski-Rennläufer aller Zeiten. Der für Luxemburg gestartete gebürtige Vorarlberger gewann als einziger Fahrer fünfmal den Gesamt-Weltcup und war viermal Weltmeister. Heute produziert er mit einer eigenen Firma Ski-Bekleidung, organisiert Gruppen-Führungen unter anderem bei der WM in Garmisch-Partenkirchen, hält Motivationsvorträge in mehreren Sprachen und arbeitet als Berater für den bulgarischen Ski-Verband. Ein Gespräch über die Sicherheitsdebatte und warum sich der Ski-Weltcup schlecht vermarktet.

sueddeutsche.de: Herr Girardelli, Günter Hujara, der Renndirektor des Ski-Weltverbands Fis, hat die früheren Weltklasse-Fahrer aufgefordert, sich in die Sicherheitsdebatte einzubringen. Hat er Sie schon kontaktiert?

Marc Girardelli: Ich habe ja über meine Kontakte zum bulgarischen Verband auch einen guten Draht zur Fis. Es ist kein leichtes Unterfangen, mit der Fis zu sprechen. Die Leute sind recht alt eingesessen.

sueddeutsche.de: Hätten Sie der Fis etwas zu sagen?

Girardelli: Der Weltcup leidet nicht unter einem Mangel an Sicherheit. In den vergangenen Jahren hat man viele Maßnahmen ergriffen: die blauen Linien, die Netze, intelligente Kurssetzungen, Sprünge entschärfen. Man kann nicht viel mehr Sicherheit einbauen. Ein gewisses Restrisiko bleibt immer.

sueddeutsche.de: Dennoch ist die Szene aufgewühlt wegen einiger fürchterlicher Stürze.

Girardelli: Die Stürze von Hans Grugger und Mario Scheiber waren schlimm. Aber so etwas ist selbst dann nicht zu verhindern, wenn das Tempo unter 100 km/h reduziert wird. Die schlimmsten Stürze passieren häufig eben nicht an den gefährlichsten Stellen. Die Mausefalle (Sprung an der Kitzbühler Streif, wo Grugger stürzte; Anm. d. Red.) ist nicht gefährlich, eher die Kompression unten. In der Mausefalle ist nur einmal ein Fahrer gestürzt, ein Japaner landete vor ungefähr 25 Jahren auf dem Zaun, hat sich aber nicht schwer verletzt. Oft sind es absolut unscheinbare Stellen, wie der letzte Sprung in Kitzbühel. Aber nach zwei Minuten auf der schwersten Abfahrt der Welt, wenn der Fahrer endlich die schwersten Passagen hinter sich hat und immer noch mit 130 km/h unterwegs ist, da braucht es nicht viel, dass ein solch mickriger Sprung zur tödlichen Falle wird.

sueddeutsche.de: Glauben Sie, die Sicherheitsdebatte wird den Sport verändern?

Girardelli: Schlussendlich lebt die Abfahrt von Kitzbühel auch von diesen tragischen Unfällen, dem Reiz des Gefährlichen. Da dürfen wir uns nichts vormachen. Keiner will einen Sturz sehen, aber wenn er dann doch passiert, redet man lange darüber, dass man da live dabei war. Im Prinzip wartet jeder drauf, dass es einen zerlegt. Da hat Reinhard Fendrich mit seinem Lied gar nicht unrecht ("Es lebe der Sport"; Anm. d. Red.).

sueddeutsche.de: Sie organisieren Weltcup-Rennen in Bulgarien mit. Muss man dann die Strecke so planen, dass es auch mal einen zerlegt?

Girardelli: Nein, und selbst, wenn man das wollte, ginge es gar nicht. Den Berg kann man ja nicht sehr verändern, die Höhenmeter, das Gefälle und die Felsen sind gegeben. Ein Beispiel: Wenn die Abfahrt in Gröden eisig ist, ist es eine der schwersten Abfahrten, die ich kenne. Da wird es sehr holprig, schattig, es sind gefährliche Sprünge dabei, wahnsinnig schwierige Kurven mit einer hohen Geschwindigkeit. Aber wenn es dort geschneit hat, da reichen fünf Zentimeter, dann fährt meine Großmutter da runter. Wenn sie einen schnelleren Ski hat, hängt sie mich ab. Da gehe ich am Anfang in die Hocke und im Ziel stehe ich auf.

sueddeutsche.de: Nun werden die Pisten heutzutage extrem eisig präpariert. Viele Fahrer kritisieren das.

Girardelli: Das ist mit Sicherheit ein Schlüsselthema. Durch die Carving-Technologie der Skier ist der Druck der Fahrer in den Kurven auf die Piste wesentlich höher als früher. Wären die Strecken so präpariert wie vor 20 Jahren, wären sie nach wenigen Fahrern total kaputt. Damals mussten wir mit den 2,25 Meter langen Latten ohne Taillierung die halbe Kurve einrutschen, um wenigstens ein Drittel der Kurve auf der Kante ausfahren zu können. Das Einrutschen war nichts anderes als bremsen. Aber das ging mit den alten Skiern nicht anders.

sueddeutsche.de: Heute fahren die Athleten auf einem 50 Zentimeter dicken Eisblock.

Girardelli: Deshalb halten die Pisten, alle Fahrer haben ähnliche Bedingungen. Aber die Belastungen für die Fahrer sind fast unerträglich. Die Gelenke, die Knorpel, die Sehnen werden über die Maßen beansprucht.

sueddeutsche.de: Ein normaler Skifahrer kann sich das vermutlich gar nicht vorstellen.

Girardelli: Ich bin heuer mit ein paar Kunden in Kitzbühel die Streif heruntergefahren. Ich hatte extra die Skier präparieren lassen, die Kanten waren messerscharf, dennoch hat es bei weitem nicht ausgereicht, um einen guten Skifahrer diese Piste runterzubringen. An der Mausefalle, am Steilhang, an der Alten Schneise, vor allem im Zielhang musste selbst ich am Rand, wo noch ein bisschen Schnee lag, seitlich runterrutschen. Es war so eisig und hart, dass ich schlichtweg keinen Grip hatte, ich konnte dort nicht stehen bleiben. Man muss schon darüber nachdenken, ob es die Zukunft des alpinen Rennsports ist, jedes Mal einen halben Meter Eis hinzupräparieren.

sueddeutsche.de: Gibt es Alternativen oder Vorschläge?

Girardelli: Die Fis sagt seit einem Jahr, dass sie bei Universitäten und bei Vorläufern neues Ski-Material testet. Informationen dazu gibt es aber nicht. Ich denke schon, dass die Fis nach Alternativen sucht, aber nicht mit der größten Energie.

sueddeutsche.de: Einige Ex-Kollegen sagen, früher seien die Rennen gefährlicher gewesen und es habe auch viele Stürze gegeben, die im Vergleich zu heute aber keine besondere Aufmerksamkeit erhalten haben.

Girardelli: Auch früher sind die Leute manchmal nicht mehr aus dem Rollstuhl herausgekommen. Ich spreche da auch aus Erfahrung: Wenige Fahrer haben sich häufiger verletzt als ich, aber ich hatte Glück und gute Operateure und Physiotherapeuten. Durch die neuen Sicherheitsmaßnahmen müsste man eigentlich glauben, es sollte weniger schwerwiegende Stürze geben, aber das ist nicht der Fall. Die Belastungen für die Fahrer sind höher und wenn die Kraft ausgeht, kommt es zu Stürzen. Bei der Olympia-Abfahrt in Vancouver etwa hatten die Frauen große Probleme, den Zielsprung sicher zu nehmen.

sueddeutsche.de: Früher hat sich das Feld auch mal geweigert zu fahren, weil die Bedingungen so schwierig waren.

Girardelli: Ich kann mich dunkel erinnern, dass wir einmal eine solche Aktion hatten. Ich weiß aber nicht mehr genau, wo das war. Aber eine andere Geschichte: Bei einer Abfahrt in Veysonnaz Anfang der neunziger Jahre gab es gleich nach dem Start einen Sprung. Den hatte ich mir angeschaut und danach zu den Sicherheitsexperten, den Fis-Leuten, den Trainern gesagt: Ich würde den abtragen, der kommt mir sehr weit vor. Antwort: Ach, das ist kein Problem! Erster Vorläufer ab, bumm, Knie kaputt, Abtransport mit dem Akia (Rettungsschlitten; Anm. d. Red.). Dann hat man angefangen, den Sprung abzutragen und ich meinte: Na ja, die zehn Zentimeter reichen aber nicht. Antwort: Das reicht locker! Zweiter Vorläufer, bumm, Kreuzband kaputt, ab im Akia. Erst dann haben sie den Sprung richtig abgetragen. Das war wie in einem Versuchslabor.

sueddeutsche.de: Hört sich nicht sehr vertrauensvoll an.

Girardelli: Die arrivierten Läufer sollten in die Verantwortung genommen werden. Ich denke da heute an Didier Cuche. Der hat ein wundersames Auge dafür, was möglich ist und was nicht. Ich würde der Fis dringend raten, Didier Cuche in den schnellen Disziplinen als Berater einzubeziehen.

sueddeutsche.de: Die Stürze scheinen dem Image des Skisports aber nicht zu schaden, gerade Kitzbühel kann sehr zufrieden sein mit seiner Vermarktung.

Girardelli: Kitzbühel ist ein Paradebeispiel: Diese Veranstaltung bietet auch im Vergleich mit anderen Sportarten einiges. Ich habe Eddie Jordan (früherer Besitzer eines Formel-1-Rennstalls; Anm. d. Red.) im VIP-Zelt getroffen und er hat gesagt: Das ist ja besser als bei uns in den Paddock Clubs. Einige Highlights stehen sehr, sehr gut da, aber die meisten Rennen haben viel Nachholbedarf.

sueddeutsche.de: Sie glauben, der Skisport vermarktet sich schlecht?

Girardelli: Wir haben 20 bis 30 Jahre vergeudet, weil wir viel zu lange dem Amateursport verhaftet waren, um den olympischen Geist zu transportieren. Das war ein absoluter Blödsinn. Jetzt sind wir dort angelangt, wo der Tennissport vor 20 Jahren war.

sueddeutsche.de: Was kritisieren Sie konkret?

Girardelli: Es gibt bei Männern und Frauen je 40 Rennen zusammengepfercht in vier Monaten, teilweise an unmöglichen Orten. Wenn ich an Lake Louise denke, an Nordnorwegen und womöglich an Kamtschatka - kein Mensch schaut da zu, nur ein paar Braunbären und ein paar Journalisten.

sueddeutsche.de: Wie könnte es gehen?

Girardelli: Schauen Sie Schladming an: Das ist ein Rennen wie jedes andere, aber die machen ein Weltereignis daraus. Da werden 60.000 Leute hinkutschiert. Das Drumherum ist so toll organisiert, das kommt auch im Fernsehen gut rüber.

sueddeutsche.de: Debatten gab es nach dem Parallel-Slalom in München. Die einen fanden das Event mit 25.000 Zuschauern toll, die anderen sagten: Das ist kein Skisport.

Girardelli: Ich halte es für einen sehr guten Ansatz. Auch wenn es nur 20 Tore sind, auch wenn nicht alle Weltklasse-Läufer mitfahren. Wir versuchen hier den Sport in die Ballungszentren zu bringen, zu den Menschen.

sueddeutsche.de: Bode Miller kritisierte: Das hat mit Weltcup-Rennen nichts zu tun. Können Sie ihn verstehen?

Girardelli: Natürlich. Aber wen interessiert das? Der Zuschauer am Streckenrand kann nicht beurteilen, ob das schwer oder leicht ist. Für ihn ist wichtig, dass die besten Skifahrer fünf Meter neben ihm einen Berg herunterfahren. Die Athleten sind sehr nah am Publikum. Dieser soziale Faktor ist nicht zu unterschätzen. Wir sehen die sonst im Fernsehen mit Helm und 130 km/h vorbeirauschen. Kaum sind sie im Ziel, sind sie schon wieder weg. Das sind richtige Phantome. Der Zuschauer will diese Persönlichkeiten sehen. Auf der anderen Seite: Wenn man in vier Monaten 40 Rennen fährt, ist es schwer, sich am Abend noch unter die Leute zu mischen. Da vernachlässigt man gleich wieder das nächste Training.

sueddeutsche.de: Die Vermarktungsdebatte fand zu Ihrer Zeit vermutlich noch nicht statt.

Girardelli: Weniger. Aber damals war es leichter, einen Rennläufer zu sprechen. Ich denke da an Journalisten oder Bekannte von mir: Die sind ins Hotel gekommen, haben an der Rezeption gefragt: Ist der Girardelli da? Ja, Zimmer 231. Und dann habe ich einen Anruf gekriegt. Ich hab dann einen Kaffee mit denen getrunken. Heute braucht man eine Voranmeldung beim Präsidenten von Österreich, um einen Termin beim Walchhofer zu bekommen.

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