Ski-nordisch-WM:Flieger und Denker

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Goldene Gewissheit: Karl Geiger bejubelt nach seinem letzten Sprung den Sieg im Teamspringen von der Großschanze. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Die Skisprungmannschaft poliert mit Teamgold kurz vor Schluss der Heim-WM die dürftige deutsche Bilanz auf. An der Spitze: Karl Geiger, der es mit seinen Selbstanalysen zu einer erstaunlichen mentalen Stärke brachte.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf/München

Auf einmal erwachten die Pappfiguren zum Leben. Oder wer sonst veranstaltete diesen Lärm auf den Rängen? Mangels Zuschauerberechtigung hatten die Veranstalter dieser Ski-Nordisch-Weltmeisterschaften doch ein sogenanntes Papplikum aufgestellt, mit den Gesichtern der Fans, die vor dem Fernseher sitzen mussten. Aber schnell war klar: Die Pappe blieb stumm. Wer da plötzlich lärmte, das waren die freiwilligen Oberstdorfer Helfer, die klatschten, brüllten und am Ende jubelten.

Dies wegen der vier deutschen Skispringer, die an diesem Abend noch einmal Gold holten für ihren Verband, für die Oberstdorfer, aber auch für den bleibenden Eindruck dieses Gipfeltreffens, das in den vergangenen zwei Wochen aus deutscher Sicht manche Enttäuschung geboten hatte. Zum Abschluss legte sich also doch nochmal die Wirkung eines großen Erfolges über die Tage von Oberstdorf. Das hatte mit der Skisprungabteilung allgemein zu tun, insbesondere aber mit dem Mann der Stunde - Karl Geiger.

Besonders zu beobachten war dies an seinem finalen Sprung. In tiefer Hocke nahm der 28-Jährige auf der Schattenbergschanze Anlauf und streckte sich punktgenau dort in die Luft, wo ihn die Kräfte hoch hinauswarfen. Exakt wie ein Flugzeug klappte er sein Fahrwerk ein und breitete zugleich seine Flügel aus, ohne dabei langsamer zu werden. Ein paar unscheinbare Wackler schienen kurz das System zu stören, aber der Flug blieb stabil, und als Geiger schon aufzukommen schien, da wirkte es, als zünde er noch ein weiteres Triebwerk, das ihn deutlich über die grüne Linie weitertrug. "Ich habe noch nie einen Athleten trainieren dürfen, der so eine mentale Stärke hat", sagte sein Trainer Stefan Horngacher.

Bald wurde deutlich: Geiger ist kein graues Wesen, sondern ein Sportler mit Plan

Gefährden konnte diesen Team-Sieg nur noch der Pole Dawid Kubacki, dessen Mannschaft aber nur einen Punkt Vorsprung hatte und dann Dritte hinter Österreich wurde. Mehrere Faktoren entschieden an diesem Abend über den Sieg, alle Deutschen trugen dazu bei. Pius Paschke, Severin Freund und Markus Eisenbichler erreichten jeweils ihre Bestleistung. So eine versammelte Stärke liegt oft an der Dynamik eines Abends, an der Aufbruchstimmung, die einen nach dem anderen ansteckt. An diesem Abend aber auch daran, dass jeder wusste - am Schluss springt noch der Karl.

In der ersten Hälfte seiner Karriere erschien er als ruhiger, wortkarger Springer, der im Schatten der deutschen Frontmänner Freund, Eisenbichler und Andreas Wellinger stand. Doch wie sich nun herausstellt, war Geiger kein graues Wesen, sondern ein Sportler mit Plan. Denn er betrieb seine eigenen Analysen, er schrieb auf, was er im Flug erlebte, welche Ideen ihm für eine bessere Landung kamen, Gedanken zum Material, zu Anfahrt, zum Absprung, alles. Horngacher nennt ihn einen "akribischen Arbeiter, der strukturiert und durchgeplant agiert". Zimmerkollege Eisenbichler sagte jüngst der Allgäuer Zeitung, "bei der Ordnung im Zimmer muss der Karl noch dazu lernen" - bei der Ordnung im Kopf wohl weniger: "Er durchdenkt wirklich alles und hält alles fest, zum Beispiel, wie er sich fühlt", erzählt Eisenbichler.

Immer greifbarer wurde dann der Sieg, denn alle anderen waren längst mitgerissen worden. Pius Paschke, der 30-Jährige aus Kiefersfelden, war lange im Durchschnitt der Weltcupspringer gelegen. In dieser Saison gelang es ihm erstmals, beständig unter den besten Zwanzig zu landen. Am Samstag erwies er sich mit Sprüngen auf 136,5 und 132 Meter als wichtiger Rückhalt. Anders als Paschke hat Severin Freund, 32, eine lange Karriere mit WM-Einzel-Siegen, mit einem zweiten Platz bei der Tournee und dem Sieg 2016 im Gesamtweltcup hinter sich. Dann riss ihm zweimal das Kreuzband, er ist nun schon länger auf dem Weg zurück in die Bestform und könnte von den soliden Sprüngen dieses Abends altes Selbstvertrauen zurückgewinnen. Den ersten großen Schritt in Richtung Gold machte dann Eisenbichler mit 138,5 Metern im zweiten Sprung. Der Denker Geiger vollendete.

Ansteckende Dynamik: Pius Paschke, Markus Eisenbichler, Severin Freund und Karl Geiger (von links) bei der Medaillenzeremonie. (Foto: Matthias Hangst/Getty)

Dabei reden so viele Skispringer doch immer davon, dass sie nicht zu viel nachdenken dürften. Dass sie zwar ihre entscheidenden Abläufe verinnerlichen müssen, sich aber nicht verzetteln, vergrübeln dürfen, sondern darauf achtgeben müssen, im Körpergefühl zu bleiben und ihr "Zeug" zu machen. Geiger dagegen, der auch ein Technikstudium abgeschlossen hat, macht offenbar nichts lieber, als über sein Springen nachzudenken. Und damit ist er in den vergangenen Jahren Stück für Stück besser geworden. In diesem Winter war er bereits Skiflugweltmeister, Tournee-Zweiter, dann ein Wanderer im schweren Formtief. Und nun, bei der WM im eigenen Dorf, bei der jedes Pappgesicht an die Erwartungen in den benachbarten Wohnzimmern erinnerte, holte er vier Medaillen. Das gelang vor ihm nur fünf Springern.

Irgendetwas macht er anders, wenn er denkt und schreibt. Seine Suche im Kopf und im Notizbuch ist wohl konstruktiv. Fehler können manche Sportler nicht frustrieren, sondern richten sie auf, wenn sie mal verstanden sind. Das dauert ein bisschen, aber Karl Geiger, der stille, introvertierte Skispringer, nimmt sich die Zeit.

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