Marcel Hirscher fuhr sogar noch weiter. Ein sogenannter Innenskifehler ist für das ungeübte Auge gar nicht leicht zu erkennen, unscheinbar wirkt er auf den ersten Blick. Nur ein kleiner Ausrutscher auf dem eisigen Belag, den Profis umgehend intuitiv korrigieren: Der Innenski verliert Grip, man reagiert innerhalb von Sekundenbruchteilen darauf und gibt ein wenig mehr Belastung auf den Außenski - schon steht man wieder sicher auf beiden Brettern. Tausendmal sei diese Situation in seiner Karriere vorgekommen, sagt Hirscher später. Aber diesmal hatte eine kleine Bewegung schwerwiegende Folgen.
Zu sehen ist das alles auf einem Video in den sozialen Medien: Als ihm beim Riesentorlauftraining im Skigebiet Reiteralm ein solcher kleiner Fehler unterläuft, gibt er Druck auf den Ski – der allerdings gräbt sich abrupt in den Hang, was für einen kurzen Moment zu viel Belastung für das Knie ist. Schmerzerfüllt schreit Hirscher auf, er stürzt nicht, fährt noch einige Meter weiter. Sein Weg allerdings endet in diesem Moment.
Ein Kreuzbandriss und eine leichte Verletzung am „äußeren Kapselapparat“ diagnostizierten Ärzte in Radstadt am Montag, noch am Abend wurde Hirscher in Graz operiert. Der Eingriff sei gut verlaufen, heißt es am Dienstag, an dem „acht Monate Herzensprojekt“ endeten.
Von den Ergebnissen her liest sich Hirschers Comeback-Bilanz ernüchternd
Mehr als ein halbes Jahr hatte Hirscher an diesem Comeback gearbeitet, mit dem nicht mehr viele gerechnet hatten. Sich im Alter von 35 Jahren noch einmal mit den Weltbesten zu messen, nach vier Jahren Pause, war von Anfang an ein mutiges Unterfangen gewesen – und genau darin lag die Spannung. Fast ein Jahrzehnt Skisport hatte Hirscher dominiert und nicht nur im österreichischen Team ein Vakuum hinterlassen. Die Rückkehr beschäftigte den Weltcup, es gab euphorische wie kritische Stimmen, allerdings stellten sich beide Seiten die Frage, ob er tatsächlich noch einmal in der Lage wäre, unter die Besten zurückzufinden – oder ob es vielmehr eine Art Abschiedstournee werden würde. Eine klare Antwort darauf ist nun schwer zu geben, jetzt, da das Comeback bereits Anfang Dezember wieder zu Ende ist.
Von den Ergebnissen her liest sich Hirschers Bilanz ernüchternd: Platz 23 beim Auftakt-Riesentorlauf in Sölden, eine erste Laufzeit beim Slalom in Levi, die nicht für die Teilnahme am zweiten Lauf reichte, Sturz beim Slalom in Gurgl. Wer wie Teile der österreichischen Öffentlichkeit sofort Pokale und Kristallkugeln von Hirscher erwartet hatte, musste die Prognose bereits im November korrigieren, wobei derlei Erwartungen ohnehin unrealistisch waren. Bei allen drei Rennen startete Hirscher mit hohen Nummern außerhalb der Top 30, hatte daher schwerere Bedingungen. Was unter besseren Umständen möglich war, zeigte sich beim zweiten Durchgang in Sölden, als er auf besserer, weicherer Piste die drittbeste Laufzeit vorlegte.
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Die Eishänge in Levi und Gurgl stellten fast alle Athleten vor große Herausforderungen, bei Hirscher („So macht das keinen Spaß“) und auch im Team seiner Skimarke machte sich Ernüchterung breit: Die Materialabstimmung war fehlerhaft, der sonst so energische Hirscher fühlte sich unwohl auf den Hängen und wollte sich im Dezember zum intensiven Training zurückziehen, um an seiner Form und seinen Skiern zu arbeiten.
Hirscher verschickt Zitate vom Krankenbett, mit reflektierenden Gedanken
Ohnehin war das ein großer Teil der Comeback-Geschichte gewesen: Hirscher hatte in den vergangenen Jahren viel Zeit mit dem Aufbau seiner eigenen Skimarke verbracht und immer wieder selbst im Training am Material gefeilt, das in dieser Saison bei anderen gut funktioniert: Die Norweger Henrik Kristoffersen und Timon Haugan etwa, beide im Team von Van Deer und Red Bull, kamen besser zurecht als im vergangenen Jahr. Dass nun der Meister selbst noch einmal zurückkehrte, brachte einerseits Aufmerksamkeit, andererseits vor allem skitechnische Erkenntnisse für „seine“ Athleten, wie Hirscher sagt: „Für die künftigen Erfolge (...) habe ich ein bisschen etwas beitragen können und das war auch Teil meiner Mission.“
Hirscher wäre nicht Hirscher, wenn er sich am Morgen nach dem Ende dieser Mission nicht schon wieder sachlich äußern würde. Er verschickte Zitate vom Krankenbett, versehen mit reflektierenden Gedanken: „Was sagt mir das Ganze? Dass ich wahnsinnig viel Glück gehabt habe im ersten Teil meiner Karriere. Lieber ist es mir jetzt mit 35 als mit 25 inmitten meiner Hochzeit.“ Ein kleines „vielleicht“ versteckte Hirscher in der Aussage, dass seine Reise im Profibetrieb mit dieser Verletzung nun wirklich zu Ende gehe. Die Physiotherapie will er so oder so umgehend angehen – die Disziplin eines Profisportlers hat er sich auch vom Ende seiner Karriere bis zum Comeback erhalten.
Einen Einblick in seine wahre Gefühlswelt bekommt man bei Hirscher meist nur dann, wenn er verbal in den Dialekt abrutscht. So auch diesmal. Ein „großer Cut“ sei das, oder eben auf gut Österreichisch: „Brutal oasch.“