Im Frühjahr 2024, ziemlich genau fünf Jahre nach ihrem letzten Skirennen, lag Lindsey Vonn auf einem OP-Tisch, weil sie eine Teilprothese im rechten Knie eingesetzt bekam. Der äußere Teil des Gelenks wurde ersetzt, jener Bereich also, der nach fast 20 Jahren als Profiskirennläuferin die größten Schäden aufwies. In der Szene machte die Kunde des künstlichen Knies alsbald die Runde. Einst wäre man wohl zu dem Schluss gekommen, dass die Teilnahme an Profiskirennen mit so einer Prothese das letzte denkbare Szenario wären. Doch anscheinend sind diese Zeiten vorbei.
Tatsächlich meint die ehemals beste alpine Speedfahrerin der Welt es ernst mit ihrer Ankündigung, 2104 Tage nach ihrem Rücktritt ihr Comeback im internationalen Skisport zu geben. Es wäre nach der bis dato als erfolgreich einzustufenden Rückkehr des Österreichers Marcel Hirscher im Männer-Weltcup die zweite spektakuläre sportliche Renaissance dieses Winters. Allerdings mit dem Malus dieser Kniegeschichte. Und eventuell ist auch ein Thema, dass Vonn 40 Jahre alt ist, also fünf Jahre älter als Hirscher. Was also ist für die Amerikanerin realistischerweise möglich?

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Die meisten ihrer Weltcupsiege, nämlich 71 von insgesamt 82, hat Vonn in Abfahrt oder Super-G verbucht. Dem Vernehmen nach will die „Speed Queen“, wie sie bis heute genannt wird, bei den schnellen Weltcup-Disziplinen antreten. In einem Monat, beim ersten Abfahrtsweltcup der Saison, könnte es also theoretisch so weit sein. „Ich hoffe, mein Rennanzug passt noch“, schrieb die Abfahrts-Olympiasiegerin von 2010 jedenfalls auf Instagram, es klang eher scherzhaft. Andere Postings aus den vergangenen Wochen und Monaten lassen indes Schlüsse darauf zu, dass Vonn es ernst meint. „Es ging schon immer um die Reise“, ließ sie vor einer Woche wissen, daneben ein Foto, das sie offenbar beim Training auf einem Skiberg zeigt. „Ein Schritt nach dem anderen wird mich dorthin bringen, wo ich hingehen soll.“ Dafür gab es zahlreiche fröhlich aussehende Emojis von Fans – und eines von Marcel Hirscher.
Ein PR-Gag soll das offenbar nicht werden, wenngleich die PR für den Skisport in jedem Fall enorm sein dürfte, ob Gag, Gaga oder Ernst. Auf letzteres lassen die jüngsten Aussagen Vonns schließen. „Ich habe meine Karriere damals ohne die Absicht beendet, jemals zurückzukehren. Aber ich liebe das Skifahren und bin niemand, der Angst hat. Es ist ein Risiko, das ich bereit bin einzugehen“, sagte sie der New York Times in einem Interview: „Ich will es genießen, und hoffentlich führt mich der Weg in den Weltcup zurück.“
„Wenn eine das unmöglich Anmutende schaffen kann, dann ist es die einzigartige Lindsey Vonn“, sagt Felix Neureuther
Aber wie konkurrenzfähig kann man mit 40 Jahren und Kunstknie noch sein? Im Netz ist eine Mischung aus Ratlosigkeit und Spannung zu vernehmen, von „Vonn-Sinn“ bis „Vonn-der“ wird dort gekalauert und gerätselt. Erste seriöse Hinweise könnte wohl der Auftakt der Speed-Saison der Frauen am 14. und 15. Dezember in Beaver Creek im US-Bundesstaat Colorado liefern. Ein Comeback in den USA, fast schon Hollywood-Material wäre das. Doch genau darauf hofft Vonn, wie sie unlängst erklärte. Vielleicht wird es ja zunächst ein entschärftes Comeback.
Dem Vernehmen nach könnte es tatsächlich dazu kommen, dass Vonn dort in der Abfahrt am Samstag und/oder im Super-G am Sonntag an den Start geht – allerdings als Vorläuferin, außer Konkurrenz. Details gibt der US-Skiverband dazu bisher nicht preis, der Vonn nominieren müsste. „Lindsey war in der Lage, ins Training einzusteigen und ihr Knie ausführlich zu testen“, heißt es in einer Mitteilung des Verbandes, dessen Präsidentin Sophie Goldschmidt die „inspirierende Hingabe und Leidenschaft“ Vonns lobt.
Die 82 Weltcuprennen, die Vonn zwischen 2001 und 2019 gewann, waren damals ein Rekord bei den alpinen Skirennfahrerinnen. Und sehr wahrscheinlich wäre sie noch weiter gefahren, um die damalige Bestmarke von Ingemar Stenmark (86 Weltcupsiege) zu knacken, hätte ihr Körper sie nicht gestoppt nach zahlreichen teils schweren Sportverletzungen, die eine Skifahrerkarriere mit sich bringt. Das Leben einer Abfahrerin ist ja eine stete Gratwanderung zwischen Bestzeit und Kollateralschaden, kleinste technische Fehler oder minimale Unwägbarkeiten auf der Eispiste können über eine gesunde Ankunft im Ziel oder einen Kreuzbandriss entscheiden. In der Abfahrt sind Risiko und körperliche Belastung bei Geschwindigkeiten von bis zu 150 Kilometern pro Stunde von allen alpinen Disziplinen am höchsten, weswegen die Verletzungsakten mancher Speed-Profis Schrankwände füllen.
Bei den Fragen zu Vonns Leistungsfähigkeit ist eines klar: Ihr eventuell überambitioniertes Vorhaben ist in der Geschichte des alpinen Skisports ein Novum. Aber wer, wenn nicht sie? „Wenn eine das unmöglich Anmutende schaffen kann, dann ist es die einzigartige Lindsey Vonn“, sagt etwa Deutschlands erfolgreichster Skirennläufer bei den Männern, Felix Neureuther. Markus Wasmeier, aus einer früheren Skifahrergeneration stammend, wirkt gelinde gesagt skeptischer: „Meiner Meinung nach ist das nur eine Show.“ Wolfgang Maier indes, Alpin-Direktor beim Deutschen Skiverband, traut Vonn offenbar tatsächlich Weltcuppunkte zu, wie er dem Sender Sport1 sagte: „Ich glaube, dass sie an die erweiterte Weltspitze herankommen kann.“
Ob Lindsey Vonn, wie kürzlich Hirscher bei seinem Comeback in Sölden, demnächst eine Wildcard vom Skiweltverband Fis erhält – und damit die für schnellere Zeiten förderliche Startnummer 31? Die Fis teilte am Freitag auf Nachfrage mit, vom US-Skiverband eine Anfrage erhalten zu haben, „wie die Bedingungen für die Beantragung einer Wildcard für ein Fis-Weltcuprennen in dieser Saison lauten würden“. Dem offiziellen Fis-Regelwerk zufolge erfüllt Vonn die Kriterien.