Süddeutsche Zeitung

Sofia Goggia im Ski alpin:Saison-Aus auf der Touristenpiste

Sofia Goggia, der überragenden Abfahrerin des Winters, unterläuft am Rande des Weltcups in Garmisch-Partenkirchen ein folgenschweres Malheur - nur eine Woche vor der Heim-WM.

Von Johannes Knuth, Garmisch-Partenkirchen

Manchmal, hat Sofia Goggia erst vor zwei Tagen gesagt, als sie im Zielraum der Kandahar-Piste stand, wisse sie auch nicht so recht, was sie von sich erwarten dürfe. Es sei im Grunde ja einfach: "Skifahren ist für mich ein Weg, mich auszudrücken: Ich reflektiere, was in mir vorgeht, und zeige das beim Fahren." Nur manchmal, da stehe sie am Start, und dann entweiche ihr im Rennen plötzlich ein Manöver, mit dem sie niemals gerechnet hätte. "Aber so bin ich", sagte Goggia, "ich bin ein bisschen wie ein verrücktes Pferd."

Man könnte auch sagen: Das ist fast noch ein bisschen untertrieben.

Was hatte die 28-Jährige aus Bergamo nicht alles aufgeführt in den vergangenen Wintern: Stürze, bei denen es sie in der Luft verdrehte, Goggia auf den Kopf prallte, sich wieder fing und weiterfuhr; Kurvenlagen, bei denen sie mit Gesäß und Armen durch den Schnee schlingerte; Rennen, bei denen sie einen Skistock verlor und trotzdem gewann. Allein in diesem Winter hatte sie vier von fünf Abfahrten gewonnen, immer auf der letzten Rille. Vielen fachkundigen Beobachtern kriecht da schon mal der Angstschweiß auf die Stirn, andere halten Goggias Fahrten schlicht für unverantwortlich. Die Italienerin kann darüber natürlich nur lächeln und ihr Mantra wiederholen, "so bin ich nun mal". Es ist tatsächlich wie einst bei Bode Miller, dem alpinen Freigeist aus den USA: Alle warten im Ziel darauf, was Goggia diesmal anstellt.

Goggia war eine der größten italienischen Hoffnungen für die Heim-WM

Welch seltsame Ironie, dass sich ihr jüngster Unfall nun nicht während einer ihrer wilden Abfahrtsritte ereignete, sondern auf einer Touristenstrecke, im Schatten der bissigen Kandahar. Die alpinen Skirennfahrerinnen waren am Sonntag auf dem Weg in ihre Hotels in Garmisch-Partenkirchen, der Super-G war nach stundenlanger Warterei abgesagt worden, über dem Skigebiet hing dichter Nebel. Goggia, so schilderte es die Zeitung Repubblica, sei bei der Talfahrt auf einen Schneehaufen geprallt, den sie im Nebel übersehen habe, sie habe sich mehrfach überschlagen und sogar ihren Helm verloren. Die bittere Diagnose: ein gebrochener Schienbeinkopf und das Saison-Aus, eine Woche vor der Heim-WM in Cortina d'Ampezzo. Die zuletzt so erfolgreichen Italienerinnen sind schon jetzt einer ihrer größten Hoffnungen beraubt, die WM einer ihrer größten Attraktionen.

Jeder Sturz, jede Auszeit hinterlässt ja Schrammen in einer Rennfahrerseele, wobei: Wenn es eine Fahrerin gibt, deren Horizont auch nach vielen Schmerzensjahren weitgehend frei von Wolken des Zweifels ist, dann ist das Goggia. Sie sei ein "Chaot", hat sie einmal gesagt, ausgestattet mit dem Temperament eines Vulkans, und es gab eine Zeit, da fuhr sie auch so. Sie erlitt drei Kreuzbandrisse, Frakturen am Oberschenkelkopf und Sprunggelenk, im Vorjahr stürzte sie auf der Kandahar im Super-G und brach sich den linken Unterarm, auch wenn das eher einer Petitesse gleichkam, wie sie zuletzt urteilte: "Das war doch nur ein gebrochener Knochen!"

Goggias Krankenakte sähe vermutlich noch wüster aus, hätte sie vor ein paar Jahren nicht ihre Mentalität geändert. "Früher habe ich es übertrieben, jetzt wandele ich an der Grenze", sagte sie damals. Sie hat bislang elf Weltcup-Rennen gewonnen - acht in der Abfahrt, drei im Super-G -, außerdem die Abfahrtswertung 2018, WM-Bronze im Riesenslalom (2017) und Super-G (2019). Kurz darauf, im April 2019, stürzte sie mit ihrem Auto einen Hang hinab, landete auf einem geparkten Wagen - und blieb unverletzt. Ihr größter Erfolg war bislang der Olympiasieg 2018 in der Abfahrt, die Amerikanerin Lindsey Vonn rief die Italienerin damals noch an Ort und Stelle zu ihrer Nachfolgerin aus, in jeder Hinsicht: Goggia sei verrückt, sagte Vonn, "wie ich".

Die Stimmung im deutschen Lager: lauwarm

An Lara Gut-Behrami wäre aber wohl auch Goggia am Montag nicht vorbeigekommen: Die Schweizerin gewann das Nachholrennen vom Sonntag und somit ihren vierten Super-G hintereinander. Die Slowakin Petra Vlhova, die etwas überraschend auf Rang zwei vorpreschte, behauptete immerhin ihre Führung im Gesamtweltcup, um 42 Punkte. Gut-Behrami war freilich nicht nach Kampfansagen zumute, "die letzten zwei Wochen waren für uns alle ziemlich anstrengend", sagte sie. Auch das könnte viele Verletzungen erklären, welche den Skitross gerade mal wieder ereilen. Der Januar ist im Weltcup seit jeher die Hauptverkehrszeit, in diesem Winter finden dieselben Disziplinen aber oft noch geballter statt, an weniger Orten, um das Infektionsrisiko zu minimieren.

Die Stimmung im Deutschen Skiverband war am Montag auch eher lauwarm: Kira Weidle hatte es vor der Einfahrt in den Steilhang weit von der Linie getrieben - Rang 24, die nächste Enttäuschung nach Platz 23 am Samstag. Der letzte Stresstest vor der WM endete für Weidle also mit der Erkenntnis, dass es in der kurvigeren der beiden Speed-Disziplinen noch immer nicht vorangeht, im Gegensatz zur Abfahrt - wobei Weidles Wut kurz nach dem Rennen schon wieder verraucht war: "Es war immerhin nur noch ein grober Fehler, ich minimiere die Patzer", sagte sie - und lachte.

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