Federica Brignone ist schon lange auf Rennpisten dieser Winterwelt unterwegs, die 34-jährige Italienerin hat dort fast alles erlebt. Zeiten, in denen die Ski unter den Füßen so weit entfernt vom Kopf zu sein schienen, dass die Ideen von oben nicht mehr unten auf der Stahlkante ankamen. Sie hat es aber immer wieder geschafft, solche Phasen zu überdauern, ehe sie wiederkehrend einschüchternde Formhöhen erreichte. Brignone hat das im SZ-Interview einmal so ausgedrückt: „Dann ist alles einfacher, alles ist verschmolzen: dein Geist, dein Körper, deine Ski.“
Am Donnerstag in Saalbach-Hinterglemm hat Brignone im höheren Skifahrerinnenalter offenbar noch einmal eine ganz neue Formel entdeckt. Die Frau aus dem Aostatal carvte durch den WM-Riesenslalom, als bestünde der nicht aus Buckeln und Schlägen. Sie ließ es vielmehr wie gemütliches Frühjahrsskifahren aussehen, und das war es vielleicht auch für sie, angesichts der auffällig hohen Temperaturen im Glemmtal. Brignone gewann den WM-Riesenslalom nicht nur, sie fuhr zudem in beiden Durchgängen Laufbestzeit und hatte am Ende knapp eine Sekunde Vorsprung auf die Tageszweite Alice Robinson aus Neuseeland – und beinahe drei Sekunden auf die Dritte Paula Moltzan aus den USA. Die Zeitabstände zur Weltmeisterin waren so groß, dass Brignone unterwegs noch entspannt einen Espresso hätte schlürfen können.

Alpine Ski-WM:Machtdemonstration beim Nachbarn
Während die Schweizer Männer bei der Team-Kombination alle Medaillen abräumen, muss die deutsche Mannschaft aufgrund der schwierigen Umstände schon mit Rang acht für das Duo Jocher/Straßer zufrieden sein.
Der Deutschen Emma Aicher dürfte dieser achte Renntag von Saalbach weniger geschmeckt haben, sie kam auf Platz 23. Ihrer deutschen Teamkollegin Lena Dürr gelang dafür umso mehr, sie zeigte nicht zum ersten Mal in diesem Winter Ambitionen für größere Schwünge. In Durchgang eins demonstrierte die Slalomspezialistin auf kompliziertem Terrain, das viele ihrer Konkurrentinnen hadern ließ, eine technisch überlegte Fahrt: Sie wählte eine drehende runde Linie, die sich als vorteilhaft erwies, denn viele Konkurrentinnen, die mit direkteren Schwüngen auf die Tore zusteuerten, stiegen aus.
„Das war viele Jahre mein Traum“, sagt Brignone
Nach Rang sieben zur Halbzeit und einer etwas verhalteneren Finalfahrt landete die 33-Jährige am Ende auf Rang neun – ihr bestes Saisonergebnis im Riesenslalom nach Rang zehn in Sölden. „Ich habe versucht, alles auszublenden“, sagte die Münchnerin im Ziel und richtete den Blick nach vorn, zu ihrem persönlichen Höhepunkt, dem Slalom. „Jetzt kann ich mit einem richtig guten Gefühl vom Hang gehen, ich freue mich sehr auf Samstag.“
Brignone indes war im Ziel offenbar gerade erst auf den Geschmack gekommen. Mit ihrem Helm im Tiger-Design ließ sie sich vom Publikum feiern, und auch wenn wie tags zuvor keine österreichische Vertretung auf dem Podium stand, wirkten die 11 000 Zuschauer im Saalbacher Skistadion gelöst – ob der Unterbrechung der Schweizer Festspiele bei dieser WM. „Das war viele Jahre mein Traum. Ich war schon zweimal Zweite und ich wollte endlich nach ganz oben“, sagte Brignone. „Es ist einfach verrückt und unglaublich, dass ich das heute geschafft habe.“
Federica Brignone stammt aus der Gemeinde La Salle, früh ist in den Skisport hineingewachsen, aber ihr Aufstieg verlief nicht so rasant wie bei manch anderer Hochbegabter. Ihr Vater Daniele ist Skilehrer, Mutter Maria Rosa gewann einst vier Weltcup-Slaloms und begleitet die Rennen der Tochter heute als Reporterin. Als Kind, so hat Brignone einmal erzählt, habe sie sich nie vor Kälte, Wind oder Stürmen gefürchtet. Am liebsten fuhr sie im Tiefschnee und mochte jede Art von alpinem Wettstreit: „Auch von der dummen Sorte, zum Beispiel, wer am weitesten springt“.

Sie brauchte einige Winter, ehe sie ihr Können in konstante Erträge überführte; eine Sprunggelenksoperation raubte ihr jedoch fast eine Saison. Im Sommer 2015 passte sie ihre Trainingsphilosophie an: Schwere Arbeit ist unerlässlich, hatte sie gelernt, aber nur, wenn man dem Körper bisweilen Ruhe gönnt. Im Oktober 2015 gewann sie ihren ersten Weltcup, den Riesenslalom in Sölden. Dass sie so lange darauf warten musste, sagte sie damals, liege daran, „dass ich es bislang einfach nicht verdient hatte“.
Inzwischen zählt Brignone zu den besten Skifahrerinnen der Welt, 77 Podestplätze in Einzelrennen hat sie gesammelt, 32 davon hat sie gewonnen. 2019/20 sicherte sie sich die große Kristallkugel für den Gesamtweltcupsieg; in diesem Winter führt sie in der Gesamtwertung mit 70 Punkten vor der Schweizerin Lara Gut-Behrami. 2023 wurde Brignone zudem als erste Italienerin Weltmeisterin in der Kombination. Ziemlich genau ein Jahr vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Cortina d'Ampezzo dürfte die Konkurrenz vor nun umso mehr gewarnt sein. Weniger wegen Brignones Tigerhelm, sondern weil diese Italienerin bei ihren Heimspielen auch im sehr hohen Skifahrerinnenalter von dann 35 zu den Goldfavoritinnen zählen wird.