Süddeutsche Zeitung

Ski alpin:Warum ist Mikaela Shiffrin so gut?

Lesezeit: 4 min

Von Matthias Schmid, Flachau

Die Uhr an der Wand zeigte fast schon Mitternacht, als Mikaela Shiffrin in der Turnhalle der Flachauer Volksschule die Hosen heruntergelassen hat. Zumindest fast. Halb aus ihrem Rennanzug geschält und in Turnschuhen stand die Rennläuferin am Dienstagabend noch da und beantwortete ausgiebig Fragen zu ihrem imponierenden Sieg beim Nacht-Slalom im Salzburger Land. Dabei war ihr Vorsprung auf die Zweitplatzierte Bernadette Schild diesmal gar keine Demütigung: Nur eine knappe Sekunde (0,94) hatte sie auf die Österreicherin herausgefahren. Für Shiffrin-Verhältnisse ist das fast schon wenig.

Doch die Amerikanerin hat sich damit etwas bewiesen: Dass sie Rennen gewinnen kann, wenn sie nach dem ersten Durchgang nicht das Klassement anführt - und im zweiten Durchgang noch einmal richtig angreifen muss, damit es für den Sieg reicht. Shiffrin hat diese Situation noch nicht häufig erlebt. "Das war wichtig für mich", gab die 22-Jährige zu.

Zehn Weltcup-Siege allein in diesem Winter

In diesem Winter hat sie bisher noch nicht ein Mal einen Rückstand aufholen müssen. Groß war er auch in Flachau nicht, aber immerhin 0,37 Sekunden betrug er auf die nach dem ersten Lauf Führende Schild. Den Rückstand in einen Vorsprung zu verwandeln, "das war ein großer Schritt für mich", fügte die Amerikanerin hinzu. Sie hat sich ein Ziel gesetzt: Shiffrin will zur Elite von Skifahrern wie Marcel Hirscher gehören; nicht nur einfach schneller fahren als ihre Rivalinnen, sondern das noch auf spektakuläre Weise tun.

Zehn Weltcup-Rennen hat Shiffrin in diesem Winter schon gewonnen, zuletzt hat sie sogar fünf Siege in Serie aneinanderreihen können. Da fragen sich viele, warum sie so unverschämt gut Ski fährt, viel besser als ihre Kolleginnen. "Das ist eine gute Frage", bekannte die Drittplatzierte Frida Hansdotter in Flachau, "aber diese Frage beschäftigt uns schon seit Jahren." Die Schwedin hat sie in der Vergangenheit im Slalom auch schon besiegt: "Aber im Moment fährt Mikaela in einer eigenen Liga."

Wenn Shiffrin wie im zweiten Durchgang auf hinreißende Weise den Berg hinabsaust, kann auch der Laie erkennen, dass sie rasant unterwegs ist. Es staubt fast kein Schnee auf, wenn sie um die Kurven fährt, sie rutscht nicht und bewegt sich fast immer auf den Kanten. Was den deutlichen Unterschied ausmacht, können dann die Experten erkennen, sie sehen, dass "sie bei jedem Tor mit dem Schwung schon fertig und auf Zug ist, wenn wir noch den Ski nachdrücken", schwärmt Bernadette Schild: "Das ist zwar jeweils nur eine Kleinigkeit, aber bei 50, 60 Toren summiert sich das eben."

Hinzu kommt ihre körperliche Robustheit und ihr Ehrgeiz, Shiffrin ist nicht nur begabter als alle anderen, sie trainiert auch noch härter und intensiver. "Sie kann eine Linie fahren, die viele andere nicht in der Lage sind zu fahren", sagt die frühere Weltklasse-Rennläuferin Marlies Raich (früher Schild) in den Salzburger Nachrichten, "weil sie dem Druck und der Fliehkraft, die dadurch entstehen, nicht standhalten können".

Für den Sieg beim höchstdotierten Frauen-Rennen im Weltcup erhielt Shiffrin fast 68 000 Euro, es war ihr 30. im Slalom, nur noch fünf fehlen ihr zur Bestmarke von Marlies Raich. Zahlen aber bedeuteten ihr nichts, wiederholt die Sportlerin aus Lyme, New Hampshire bei jeder Gelegenheit. "Ich zähle nicht mit", bestätigte Shiffrin nach dem Rennen. Am 1. Januar dieses Jahres hatte sie auf ihrer Facebook-Seite so etwas wie eine Neujahrsbotschaft geschrieben. Überschrieben war der Eintrag mit dem Titel: "Ich muss das glücklichste Mädchen des Planeten sein." Sie erklärte dann, warum sich ein Jahr und ein Leben nicht in Zahlen bemessen lässt, nicht an Atemzügen, "sondern an Momenten, die uns den Atem nehmen".

Wenn sie eines Tages keine Skirennen mehr fahre, schrieb sie weiter, werde sie ihre Karriere nicht als eine Nummer von Siegen oder Rekorden betrachten, sondern als "eine Serie von unglaublichen Momenten mit all den unglaublichen Menschen und Sponsoren um mich herum, die diese Reise zu so viel mehr gemacht haben als nur Skirennen fahren". Auch am Dienstagabend sagte Shiffrin, es gehe ihr nicht darum "nach den Rennen Champagner zu trinken". Sie will einfach erleben, dass sich die ganze Plackerei lohnt. Die Siege sind Bestätigung für ihre Arbeit, mit der sie es sich und ihren Trainern und ihrer Familie nicht immer einfach macht.

Shiffrin hat in der vergangenen Saison lernen müssen, dass sie sich und ihrem Körper Pausen gönnen muss. Deshalb verzichtet sie nun auf die Speedrennen in Bad Kleinkirchheim. Sie kann sich den Verzicht auch erlauben, sie führt mit großem Vorsprung den Gesamtweltcup an, nachdem sie in diesem Winter sogar erstmals eine Abfahrt für sich entschieden hat. Im vergangenen Winter ließ sie sich von der Rekordjagd der Öffentlichkeit und ihren Fans, die sich fragten, wie viele Siege sie in Serie erreichen könnte, anstecken. Das hatte sie im Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung zugegeben. "Plötzlich waren die Erwartungen der Öffentlichkeit höher als meine eigenen. Das setzte mich unter Druck. Ich musste mich vor einigen Rennen am Start übergeben, so gestresst war ich. Ich hatte das Gefühl, ich müsse gewinnen, und dadurch verlor ich die Kontrolle."

Deshalb interessiert sie es auch nicht mehr, dass sie schon wieder einen weiteren Rekord eingestellt hat, sie kommt mit 22 Jahren nun auf 41 Weltcupsiege, genauso so viele wie einst nur Annemarie Moser-Pröll in diesem Alter erreichte.

Statt ihre Siege zu zählen, sammelt Shiffrin der Gesundheit zuliebe nun halt "unglaubliche Momente". Wenn sie einen herausheben müsse, hat sie im Interview mit der NZZ erzählt, war es ein Abend in Seth Meyers' Talkshow. Neben ihr war noch Schauspieler Morgan Freeman eingeladen. "Ich dachte, oh, ich höre die Stimme Gottes!" Freeman spielt in zwei Filmen Gott. Für ihre Konkurrentinnen ist Mikaela Shiffrin auch nicht von dieser Welt.

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