Protektoren im Ski alpin:Das Risiko mit der Sicherheit
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Einen Sport auf der Kante etwas sicherer machen: Das war das Versprechen, als der Rücken-Airbag vor sechs Jahren im alpinen Weltcup eingeführt wurde - aber heute misstrauen ihm viele Skirennfahrer.
Von Johannes Knuth, München
Es war wieder einer dieser Momente, in dem alles versiegte, auf einen Schlag: der Hochgeschwindigkeitsrausch des Skirennfahrers, die Heiterkeit der Menschen im Ziel. Matthias Mayer hatte es gerade auf einer der vielen Wellen der tückischen Saslong-Piste in Gröden abgeworfen und auf den Rücken katapultiert, auf brettharten Schnee. Bald hörte man nur noch das Knattern des Rettungshubschraubers. Dann die ersten Gerüchte, Mayer gehe es gut, ehe am Abend das ernüchternde Krankenbulletin eintraf: Der Österreicher, einer der Besten seiner Zunft, hatte sich bei dem Aufprall zwei Wirbel gebrochen. Seine restliche Saison: beendet.
Als das Unfallopfer damals, vor sechs Jahren, noch auf der Piste versorgt wurde, stand ein Mann im Zielbereich, der plötzlich sehr gefragt war. Er war beim Hersteller des sogenannten Airbags angestellt, der im Weltcup gerade Marktreife erlangt hatte. Die neue Technik sollte einen Sport auf der Kante ein wenig sicherer machen, Mayer hatte sie damals als einer von wenigen Fahrern angelegt.
Und ja, bestätigte der Mann im Ziel, dieser Rückenpanzer habe rund um den Athleten gerade ein schützendes Luftpolster aufgeblasen, binnen Millisekunden, bevor Mayer aufschlug. Es war das erste Mal, dass der Airbag im Weltcup ausgelöst hatte. Zum Glück, mutmaßten viele - darunter auch Mayer selbst -, sonst hätte sich der Gestürzte wohl schlimmer verletzt.
Heute ließen sich für diese These wohl nicht mehr ganz so viele Anhänger gewinnen. Gespräche mit Fahrern und Experten legen nahe, dass ein Sicherheits-Feature, das der Ski-Weltverband Fis einst stolz präsentierte, immer häufiger Sicherheitsbedenken hervorruft (auch wenn der Hersteller derartige Bedenken zurückweist).
Die deutschen Abfahrer fahren derzeit wieder mit den herkömmlichen Protektoren
Die Abfahrer des Deutschen Skiverbandes (DSV) stellen mittlerweile eines der größten und erfolgreicheren Teams der Szene, mit sieben Stammkräften im Weltcup, die verletzten Thomas Dreßen und Manuel Schmid eingerechnet. Deren Unfälle waren es, die bei den Kollegen "ein bisschen das Überlegen" lostraten, sagt Dominik Schwaiger, der bislang konstanteste DSV-Abfahrer des Winters.
Dreßen hatte sich bei Unfällen beide Schultern ausgekugelt, Schmid stürzte in der Vorbereitung vor diesem Winter, er erlitt auch Frakturen an den Wirbelfortsätzen. Beide Anamnesen kamen den Fahrern komisch vor: Schon wieder die Wirbelfortsätze, wie einst bei Mayer? Und die Schultern? Wo Oberkörperverletzungen im Skisport doch sehr selten vorkommen?
"Wir haben natürlich beim Hersteller nachgefragt", sagt Schwaiger, "uns konnte aber eigentlich keiner eine plausible Begründung liefern." Die Fahrer forschten also selbst nach, sie durchleuchteten die Anatomie des Geräts, die Vermutung: "Dass es eine Kleinigkeit war, die so eine Verletzung eventuell verursacht haben könnte", sagt Schwaiger. Offenbar ist die Sauerstoffkartusche, die den Airbag im Ernstfall aufbläst, so verbaut, dass sie bei einem Sturz womöglich auf die Wirbel drückt.
Zweifelsfrei belegen ließ sich das nicht, aber wenn sich bei Athleten nur ein paar Häuflein Restzweifel einnisten, während sie mit 150 Sachen über die Eispisten donnern, wie gerade wieder in Wengen und bald in Kitzbühel - dann erblüht daraus schnell größere Unsicherheit. Die deutschen Abfahrer nutzen seit diesem Winter jedenfalls wieder den herkömmlichen Rückenprotektor, bis auf Weiteres. "Solange wir uns sicher fühlen", sagt Schwaiger, "passt es auch so." Und jetzt?
Der Hersteller, das italienische Unternehmen Dainese, lässt Anfragen dazu zunächst unbeantwortet. Dem Vernehmen nach wies die Firma die Vermutungen zuletzt strikt zurück, als sie von den Fahrern und Experten konfrontiert wurde: Man habe den Airbag umfassend getestet, die Verletzungen ließen sich auf keinen Fall darauf zurückführen.
Unbestritten ist, dass Dainese viel Aufwand betrieb, um den Airbag auf den Ski-Markt zu bringen: Die Firma ist bekannt für ihre Schutzausrüstung im Motorsport ( wo die Airbags auch schon kontrovers diskutiert wurden), dort rüttelt es die Fahrer aber nicht so durch wie auf einer Abfahrtspiste. Es dauerte, bis die Ingenieure einen Algorithmus entwickelten, der zweifelsfrei erkennt, ob ein Läufer gerade die Kontrolle verliert oder von einer Bodenwelle ausgehoben wird. Wenn es dann aber zum Ernstfall komme, versprach Dainese einst, könne der Airbag mehr als 60 Prozent der Aufprallwucht absorbieren.
Rund sechs Jahre später ist die Szene noch immer gespalten. Bei den Speed-Rennen der Frauen in Val d'Isère trugen dem Vernehmen nach 30 von 41 Starterinnen den Airbag, eine gute Quote. Von zehn Fahrerinnen des großen Österreichischen Skiverbands hatten zuletzt aber nur fünf die Ausrüstung angelegt; bei Männern war es nur einer von acht Startern, wie der ÖSV mitteilt.
Als der Schweizer Marc Gisin 2018 in Gröden - ohne Airbag - so schwer stürzte, dass er seine Karriere beenden musste, outeten sich Beat Feuz, Aleksander Aamodt Kilde und Max Franz, drei Branchenführer, trotzdem als Airbag-Skeptiker: Zu wenige verlässliche Daten, außerdem schränke der Protektor die Bewegungen ein. Im Skisport muss sich das meiste dann doch der Geschwindigkeit unterordnen, auch die Sicherheit.
Karlheinz Waibel leitet im DSV das Ressort Wissenschaft und Technologie, er ist auch im Weltverband Fis eng verdrahtet, was diese Themen betrifft. Ihn wundert es nicht, dass manche den Airbag skeptisch sehen. Man habe von Anfang an gewusst: "Das Sicherheitsplus, das einem der Airbag gibt, sichert gegen das eigentlich größte Risiko beim Skirennfahren gar nicht ab - das sind die schweren Knieverletzungen."
Wenn dann noch leise Zweifel an der Sicherheit aufzögen, sagt Waibel, "wird es natürlich schwer". Und Wirbelverletzungen seien im Skisport tatsächlich "extrem selten", ihm seien solche Vorkommnisse nur in den weniger rasanten technischen Disziplinen bekannt: Wenn ein Fahrer im Training etwa stürze, ohne Protektor, und mit dem Rücken auf eine Torstange schlägt. Da überrascht es kaum, dass Athleten hellhörig werden, wenn auf einmal binnen kürzerer Zeit mehrere Wirbel brechen.
"Vielleicht", sagt Waibel, "muss man bei der Fis generell umdenken, wenn man die Sicherheit erhöhen will."
Waibel gibt aber zu bedenken, dass solche Verletzungen womöglich nicht immer erfasst werden, "weil sie bei Stürzen passierten, die viele Auswirkungen hatten - da wird die Wirbelverletzung womöglich gar nicht erwähnt". Manche Zweifel am Airbag, sagt er, hätten sich auch als unbegründet erwiesen. Fehlauslösungen etwa, die "sind die absolute Ausnahme". Er halte es schon für vorteilhaft, "dass wir ein Feature haben, das auch dieses Risiko abmildert".
So oder so ist das durch die jüngsten Ereignisse nicht gerade leichter geworden: den Airbag für alle vorzuschreiben, wie es der Hersteller sich noch immer wünscht. Die Fahrer müssen selbst handelsübliche Rückenschützer streng genommen nicht tragen, weil diese nicht so genormt sind wie etwa die Helme, und die Fis aus Haftungsgründen jedem Fahrer die Wahl überlässt. "Vielleicht", sagt Waibel, "muss man bei der Fis generell umdenken, wenn man die Sicherheit erhöhen will."
Die ersten Rückenprotektoren, erinnert er sich, kamen ja nicht auf, weil sie mehr Sicherheit versprachen - sondern weil die Italiener Anfang der Neunzigerjahre herausfanden, dass es aerodynamisch von Vorteil war, wenn man in der Hocke einen Protektor auf dem Rücken trug. Bis heute schreibe die Fis aber oft komplizierte Regelwerke, wonach Schutzmaßnahmen keine aerodynamischen Vorteile bringen dürften.
Ein Airbag, der nun nicht nur schütze, sondern auch den Speed ein wenig aufbohre, glaubt Waibel - der hätte sicher keine Akzeptanzprobleme: "Den will natürlich jeder tragen."