Süddeutsche Zeitung

Start der Ski-alpin-Saison:Riesenslalom durchs Minenfeld

Von den Skifahrern wird in diesem Winter mehr verlangt als nur Kantenschleifen und Abfahrtshocke: Wegen Olympia in China geht es um Menschenrechte und Technikspionage. Sogar der BND gibt neuerdings Ratschläge.

Von Johannes Knuth, Sölden

Die Szenerie wirkte kühl und provisorisch, aber sie passte in die nahende vorolympische Winterzeit. Kürzlich, auf dem kleinen Geschäftsflughafen in Schwäbisch Hall, schickte die Sonne Lichterfetzen durch schwere Wolken auf die nasse Rollbahn, auf der gerade ein Privatjet wartete. Auch ein paar Wintersportler und Funktionäre hatten sich zwischen den Hangars versammelt, um sich mit der neuen Winterkollektion ihrer Sponsoren einzudecken.

In einem weiteren Hangar, in dem Werkzeuge und Farbeimer lagerten, sprachen die Athleten vor Reportern dann darüber, wie es ihnen so geht - und über einiges mehr. Ein paar bunte Athletenmenschen in der geschäftsmäßig zusammengezimmerten Business-Welt, alles pandemiegerecht durchlüftet: So erinnerte die Szenerie schon mal sanft daran, wohin die Wintersportlern in ihrer neuen Spielzeit bald abheben - in die große, pandemische Olympiablase.

Olympia? Ach Olympia, sagte Wolfgang Maier, Sportvorstand im Deutschen Skiverband (DSV), Ressort Alpin und Freestyle. Er setzte ein spitzbübisches Lächeln auf. Zu Olympia könne er noch gar nichts sagen, "weil wir nichts wissen". Dafür sagte er dann aber doch recht viel. Er sei ja seit 1992 dabei, die Spiele im Februar in Peking sollen seine neunten Spiele werden. "In der Form", sagte Maier, "habe ich das noch nie erlebt."

Olympiawinter sind immer speziell, die Spiele sind für viele das ultimative Ziel ihres Athletenlebens. Und wenn Olympia sich dann einem Gastgeber andient, der Minderheiten und Oppositionelle massiv unterdrückt, der vor Nachbarinseln mit dem Kriegsgeschirr rasselt und gegen die Minderheit der Uiguren verübt, was die USA als Genozid klassifiziert haben - dann müssen Sportler wie die Alpinen zwei Riesenslalomläufe absolvieren: einen auf den Pisten in Sölden, wie an diesem Wochenende wieder am Rettenbachgletscher. Und einen durch die schweren Themen der vorolympischen Zeit.

Sensible Daten unbedingt zuhause lassen, rät der Bundesnachrichtendienst

Manche Probleme wirken vor dieser Kulisse fast schon wieder banal, wenn Wolfgang Maier etwa jetzt berichtete, dass die Alpinen kürzlich aus ihrer gebuchten Bleibe im olympischen Skiresort "zwangsausquartiert" wurden. Wurde halt von irgendwo oben angeordnet. Auch sonst stand zuletzt nicht nur Kantenschleifen und Abfahrtshocke im Programm, sondern etwa ein Austausch mit dem Bundesnachrichtendienst.

"Wir bringen ja sensible Daten mit", sagte Maier, Datenbänke über Wachsmischungen etwa, über Jahre zusammengeforscht. Bloß alles zu Hause lassen, hätten die Agenten geraten, denn: "In dem Moment, wo wir reingehen, sehen die alles. Du wirst ja komplett überwacht, abgehört." Auf solche To-do-Listen sei man, wenn man eigentlich nur möglichst schnell skifahren will, "nicht wirklich vorbereitet".

Andererseits: Wann fand schon Olympia statt in einem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern, das sich eisern an eine No-Covid-Strategie klammert?

Flüge nach China kosten derzeit 3500 Euro aufwärts - wirtschaftlich nicht darstellbar für den Verband

So hangeln sie sich gerade von einer Ungewissheit zur nächsten. Die Einreise: mit welchen Flügen? Für die Skicrosser steht Anfang November schon ein Weltcup in China an. Kommerzielle Flug-Angebote begännen derzeit bei 3500 Euro, sagte Heli Herdt unlängst, der im DSV die Sparte verantwortet - wirtschaftlich nicht darstellbar. Jetzt werden die Chinesen wohl Charterflüge bereitstellen.

Dem Vernehmen nach überlegen sie sogar, alle Olympiateilnehmer im Februar nach Peking zu chartern, die Sicherheitsblase würde dann schon im Ausland beginnen. Und die Quarantäne? Die beträgt derzeit drei Wochen für Ausländer, für Olympia wird sie ausgehebelt - nicht aber für Ungeimpfte, so viel ist schon klar. Das kommt de facto einem Impfzwang gleich, kein Athlet verschludert ja seine Form drei Wochen in einem Quarantänehotel. Viele deutsche Sportdirektoren meldeten zuletzt schon hohe Impfquoten in ihren Ressorts.

Und vor Ort: Da peitschen sie gerade noch hektisch ein paar Testevents durch nach vielen pandemischen Absagen zuletzt. Die Bobfahrer und Shorttracker etwa, die derzeit in China sind oder waren, berichten von Transfers über abgesperrte Autobahnen, von Desinfektionsnebel und abgeklebten Lüftungsschlitzen im Bus, von Mahlzeiten im Hotel, bei denen jeder zwischen Glasscheiben sitze, nur für sich. Das "Gemeinsam", das der deutsche Ober-Olympier Thomas Bach zuletzt an das Olympische Motto hatte dranhängen lassen, wirkt da zynischer denn je. Gemeinsam einsam, das wird es wohl besser treffen.

Wie Simon Geschkes Quarantäne in Tokio ablief, macht den Wintersportlern jetzt Sorge

Eine Sorge, sagte Heli Herdt zuletzt, spuke besonders in seinem Kopf herum: Bei dem Radprofi Simon Geschke war während der Sommerspiele in Tokio ein schwach positives Corona-Testergebnis aufgeflackert. Geschke musste trotzdem ins Quarantänehotel, er durfte nicht mal das Fenster öffnen, ein Terror für Kopf und Körper. "Und da waren wir in einem demokratischen Land!", rief Herdt. Maier sagte, man habe beim Deutschen Olympischen Sportbund eindringlich hinterlegt, dass man in solchen Fällen die Sportler verlässlich erreichen müsse.

Er verstehe auch jeden Athleten, der die Spiele wegen der Restriktionen lieber auslassen würde; er wisse sogar von "ein paar Eishockeyspielern", die das vorhätten. Heli Herdt hält es so: Wenn einer seiner Sportler nach einem Positivtest in Quarantäne müsste, "dann wird es nicht passieren, dass der so betreut wird, wie der Simon Geschke betreut wurde. Da muss einfach ein Plan da sein".

Und wenn nicht - dann fahre man nicht hin? "Ja", sagte Herdt.

Nicht wenige Athleten parieren Anfragen dazu mit der üblichen Routine. Die Spiele seien ja noch weit weg, und als Sportler kümmere einen erst mal der Sport. Klar, es gebe bessere Gastgeber, aber "Olympia ist das, wofür wir vier Jahre hintrainieren", findet etwa die Slalomläuferin Lena Dürr, "wo das dann stattfindet, ist mir zumindest ziemlich egal". Könne man eh nichts machen. Gerade die Techniker im DSV können immerhin anführen, dass sie genug zu tun haben, in olympische Form zu finden, allein die Sölden-Starter: Alexander Schmid litt zuletzt an einer entzündeten Sehne, Stefan Luitz wechselte nach 20 Jahren den Ski-Ausrüster, Andrea Filser und Marlene Schmotz wären schon froh, wenn sie in Sölden den zweiten Lauf erreichen.

Nur wenige wagen sich hinein in das sportpolitische Minenfeld, wie Josef Ferstl. Der 32-Jährige findet, "dass die Winterspiele nicht dahin gehören, wo das Interesse und die Leidenschaft am Wintersport nicht so groß sind". Man könnte ja auch mal europäische Winterspiele veranstalten, in den Alpen sei doch alles bereit. "Jeder weiß, dass in China alles neu gebaut werden musste", sagt Ferstl. Und was danach mit den Anlagen passiert? "Wir können uns denken, dass da nicht viel bei rumkommt."

Felix Neureuther kann sich einen Boykott vorstellen, aber das ist die Ausnahme

Und die Menschenrechte? Tja. Das mächtige amerikanische Olympiakomitee stimmte zuletzt wieder den alten Refrain an, ein Boykott schade nur den Athleten, im Land des Gastgebers ändere er ohnehin wenig. Als ob es das besser mache: Spiele in Diktaturen durchzupeitschen, die damit auch Menschenrechtsverletzungen reinwaschen. Aber das Thema sickert längst durch alle Ritzen, und manche Athleten beweisen zumindest das Rückgrat, das ihren obersten Vorgesetzten abgeht. Der amerikanische Eistänzer Evan Bates, ein dreimaliger Olympia-Veteran, nannte die Menschenrechtslage in China zuletzt "fürchterlich".

Seine Landsfrau Mikaela Shiffrin, auch diesmal eine der großen Favoritinnen bei den Alpinen, hatte unlängst betont, dass es "hart" sei, in Ländern zu fahren, für die "legitime Beweise" für Menschenrechtsverletzungen existierten. Da wünsche sie sich bei der Vergabe "mehr Abwägung". Einen Boykott, wie ihn Felix Neureuther zuletzt in der SZ erwog, forderte freilich kein Aktiver. Aber das wäre wohl so, als würde man von der österreichischen Brauerei-Innung den Ruf nach alkoholfreiem Après-Ski verlangen.

Apropos: Um die alpinen Festivitäten muss sich im Kernverbreitungsgebiet diesmal niemand sorgen, in Sölden sowieso nicht. Die einschlägigen Etablissements haben die bisherige Pandemie offenbar gut überstanden, die Pasta-, Pizza- und Steakläden, die dampfenden Wellnessbäder auf den Dächern der Hotels, die Diskotheken, die "Rodelhütte" und der "Hasenstall". Im Tal soll "DJ Instyle" am Wochenende "Gute-Laune-Musik" auflegen, zu den Rennen am Gletscher wollen sie wieder 16 000 Leute karren. Die Piste war zuletzt jedenfalls bestens eingerüstet: in unschuldigem Winterweiß.

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