Ski alpin:Shiffrin überwindet den Nebel des Schmerzes

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Auf dem Weg zum nächsten Gesamtweltcupsieg: Mikaela Shiffrin fährt im Super G am Donnerstag in Courchevel auf Rang zwei. (Foto: Mario Buehner/Gepa/Imago)

Kurz nachdem ihr bei Olympia völlig ihre Kunst entglitten war, gewinnt Mikaela Shiffrin zum vierten Mal den Gesamtweltcup - und geht im Moment des Erfolgs sehr offen mit ihrer Verletzlichkeit um.

Von Johannes Knuth, Courchevel/München

Mikaela Shiffrin hat einmal erzählt, dass sie das erst lernen musste: sich über die Erfolge, die sie seit Jahren sammelt wie andere Gartenzwerge oder Überraschungseier, angemessen zu freuen. Früher stapfte sie nach einem Sieg oft ins Hotel, studierte ihre Läufe und die ihrer Gegnerinnen, stundenlang. Irgendwie mussten sich aus ihrem Rechtsschwung ja noch ein paar Millisekunden pressen lassen, um noch ein wenig schneller zu werden, jeden Tag ein bisschen mehr.

Am Donnerstag in Courchevel, beim letzten Super-G der Saison der alpinen Skirennfahrer, schien Shiffrin diesen Gedanken jedenfalls für eine Weile in den hintersten Winkel ihres Gewissens vertrieben zu haben. Als Petra Vlhova, ihre letzte Widersacherin im Ringen um die Weltcup-Gesamtwertung, als 17. ins Ziel trudelte, krochen Shiffrin die ersten Tränen in die Augen, man sah das deutlich, selbst hinter der verspiegelten Brille. Die große Kristallkugel war nun offiziell in ihren Besitz gefallen, zum vierten Mal, was bei Shiffrins Begabung immer sehr zwangsläufig wirkt. Aber das war es noch nie, und wohl selten war das so deutlich geworden wie in diesem Winter.

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Alle hatten sie ihre Rucksäcke zu den letzten Rennen in Meribel und Courchevel geschleppt, größere und kleinere, wie das so ist nach einem halben Jahr auf Skirennfahrertournee. Vlhova, die Titelverteidigerin, war auch einfach zu müde gewesen, um Shiffrin noch mal ernsthaft zu gefährden - sie hatte alles auf die Rennen in Peking gesetzt, wo sie dann den Slalom gewann, das erste Olympiagold bei Winterspielen für die Slowakei. Auch die deutschen Vertreter beim Saisonfinale, wie Kira Weidle, wirkten ermattet und "etwas ratlos", wie Weidle zugab. Platz 18 in der Abfahrt, Rang 20 im Super-G, das war nicht gerade deckungsgleich mit den Ansprüchen einer WM-Zweiten in der Abfahrt. Und Shiffrin, sie redete so offen wie immer über eine "sehr spezielle Saison", in der es "viele großartige Momente" gegeben habe. Aber: "Es gab auch diese Momente, wo ich so weit unten war wie noch nie in meiner Karriere. Ich habe so viel Gewicht verspürt und bin zusammengebrochen."

Manchmal habe sich alles "so hoffnungslos" angefühlt, sagt Shiffrin

Nicht mal ein Monat ist es her, bei den Winterspielen in Peking, da konnte die Szene eine seltsam-schaurige Metamorphose begutachten: wie der besten Skirennfahrerin der jüngeren Geschichte und Gegenwart binnen Tagen die Kunst entglitt. Im Riesenslalom, ihrer zweitbesten Disziplin, fiel sie nach wenigen Schwüngen aus dem Kurs. Sie nahm die Niederlage sehr persönlich, wie all ihre wenigen Enttäuschungen, das gab sie später zu. Doch was sie sonst angetrieben hatte, noch stärker zurückzukommen, arbeitete nun gegen sie. Zwei Tage später stand schon der Slalom an, wieder schied Shiffrin aus. Sie rehabilitierte sich ein wenig im Super-G und in der Abfahrt, schlitterte dann in der Kombination wieder aus dem Kurs, die Medaille vor Augen. Sechs Chancen, kein Ertrag - von einer Athletin, die im Schnitt jedes dritte (!) Rennen gewinnt, das sie bestreitet.

Und jedes Mal trat die Amerikanerin hernach vor die Kameras und Mikrofone und versuchte, das scheinbar Unerklärliche zu erklären: wie alles schlicht zu viel geworden war, die Konkurrenz, eigene und fremde Erwartungen, auch in der Heimat, die meist nur bei Olympia aus ihrer Footballbaseballeishockeybasketballblase hervorschaut. Und dann komme sie sich auch noch dumm vor, sagte Shiffrin, dass sie sich das alles zu Herzen nehme - gebe es gerade nicht viel schlimmere Dinge auf der Welt?

Das war am Ende die vielleicht noch wertvollere Seite, die Shiffrin in dieser Saison hervorkehrte: mit wie viel Ungewissheit es einhergeht, eine Begabung immer wieder einer staunenden Öffentlichkeit vorzuführen; dass die Leichtigkeit, mit der sie die Eispisten hinunterzurasen scheint, bestenfalls leicht aussieht. Die Amerikanerin redete zuletzt auch sonst sehr offen über ihre Verletzlichkeit: Wie lange sie gebraucht hatte, um nach dem Unfalltod ihres Vaters vor zwei Jahren wieder den Nebel des Schmerzes zu lüften. Wie sie manchmal die Kursführung im Training und sogar im Rennen vergessen hatte. Wie sie langsam wieder Zuversicht verspürte. Wie sie mit dem Norweger Aleksander Aamodt Kilde zusammenkam, neben dem Schweizer Marco Odermatt der beste Skirennfahrer der Gegenwart, der in Courchevel seine Trophäen als Jahrgangsbester in der Abfahrt und im Super-G entgegennahm. Und der, wie Shiffrins Mutter Eileen schon vor der Saison betont hatte, ihre Tochter wieder auf einen Pfad geführt habe, auf dem sie wieder lachen konnte.

Endlich wieder unbeschwert im Schnee: Mikaela Shiffrin freut sich über ihre außerordentlich gute Spätform. (Foto: Pontus Lundahl/AFP)

Es habe sich zwischenzeitlich alles "so hoffnungslos" angefühlt, sagte Shiffrin am Donnerstag am ZDF-Mikrofon. Aber die Menschen um sie herum, "bringen mich immer wieder in die Spur". Und jetzt?

Shiffrins Statistiken lesen sich nach jedem Winter ja noch ein bisschen gewaltiger, und noch ist bei der Kerze ihres Sportlerlebens einiges übrig, zumindest in der Theorie. Sie hat schon jetzt, im Alter von 27 Jahren, so viele Gesamtweltcupsiege wie ihre Landsfrau Lindsey Vonn (besser war bei den Frauen nur Annemarie Moser-Pröll mit sechs Titeln); sie hat schon jetzt mehr Rennen in einer einzelnen Disziplin gewonnen (47, im Slalom) als jeder andere Alpinathlet. Und dann ist da noch diese Marke, nach der sie bislang alle vergeblich schnappten: Ingemar Stenmarks 86 Weltcup-Siege. Shiffrin steht seit ihrem Abfahrtssieg am Mittwoch bei 74.

Dass sie nicht vorhat, die Jagd einzustellen, deutete sich schon in Peking an, als sie so weit unten war wie nie zuvor; ihre Kanäle in den sozialen Medien mit wenig appetitlichen Botschaften geflutet wurden. "I'm stubborn as shit", schrieb Shiffrin damals. Auch das, nun ja, sehr offen.

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