Der Überlieferung zufolge ereignete sich dieses Treffen vor knapp neun Jahren in der Praxis des Orthopäden Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt. Der damals noch sehr junge Skirennläufer Linus Straßer holte den damals schon nicht mehr ganz so jungen Skirennläufer Felix Neureuther von der Behandlung ab. Wie es denn ihm, Linus, gehe, wollte Müller-Wohlfahrt alsbald wissen. Bestens, antwortete Straßer, seinerzeit 23, grinsend – während Neureuther, damals 32, Rücken hatte. Von der Praxis machten sich die zwei nun auf zum gemeinsamen Mittagessen, nicht ohne eine letzte Botschaft des Doktors an den jüngeren: „Der Tag kommt noch, an dem der Leistungssport auch an deinem Körper Spuren hinterlässt.“
Straßer hat inzwischen selbst das fortgeschrittene Skifahreralter von 32 Jahren erreicht und allerlei Anekdoten gesammelt, von denen allerdings die wenigsten beim Orthopäden gipfeln. Akute Arztbesuche halten sich bei ihm bisher in Grenzen. „Da bin ich total gesegnet mit einer guten Genetik“, erklärt Straßer bei einem Treffen. Und doch sei Müller-Wohlfahrts einstige Prognose nicht ganz verkehrt gewesen. „Mal hier das Knie, mal da der Rücken“, sagt Straßer. Zwickereien also, aber der kleineren Art, was von Vorteil ist angesichts Straßers großer Ziele: „Natürlich geht es mir darum, zu gewinnen, auf dem Podium zu stehen.“
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Ski alpin:"Das ist ein Riesen-Albtraum"
Was für eine Misere bei den deutschen Skifahrern: Das Speedteam der Männer besteht derzeit aus zwei Rennfahrern – die Liste der Ausfälle ist lang. Der Fall von Andreas Sander gibt besondere Rätsel auf.
Sölden war ein heiterer Aufgalopp dieser Alpinsaison im Riesentorlauf, 170 Kilometer nördlich des Polarkreises trägt sich nun die erste Zusammenkunft der heimlichen Königsdisziplin des Skisports zu: Im finnischen Levi beginnt die Slalomsaison. Am Samstag gehen dort die Frauen an den Start, Lena Dürr vom SV Germering zählt zu den Mitfavoritinnen, ehe sich am Sonntag (jeweils 10 und 13 Uhr, BR und Eurosport) die Männer in die „Levi Black“-Piste stürzen. „Der Hang wird oft ein bisschen kleiner gemacht, als er ist“, sagt Straßer. Im oberen flachen Teil ist die Kunst gefragt, trotz geringer Hangneigung Speed auf die Skier zu übertragen – ehe es abrupt in die abschüssige Passage geht. „Der Übergang ins Steile ist kompromisslos“, so Straßer. Wer an dieser Stelle mit zu hohem Tempo unterwegs ist, dem hilft auch die beste Genetik nicht mehr.
Aus deutscher Sicht ist der Slalom eventuell tatsächlich mehr als die heimliche alpine Königsdisziplin, spätestens seit der Ära des Slalomkünstlers Felix Neureuther, der auch nach seinem Karriereende bis heute über den Skisport hinausstrahlt – oder eben einen Schatten wirft auf all jene, die nach ihm kamen. Auch auf Linus Straßer?
Die Biografien vieler Skifahrer lesen sich wie Veteranenakten – bei Straßer ist es anders
Vor gut zehn Jahren war Neureuther der bis dato letzte deutsche Slalomfahrer, der den Pokal mit der Gams für den Sieg in Kitzbühel überreicht bekam. Neureuther, der erfolgreichste deutsche Weltcup-Fahrer der Geschichte, war da schon einer, dem die Nachwuchsrennläufer nacheiferten. Zu ihnen gehörte auch Straßer. Felix der Große war eines seiner Vorbilder – und um zu den Branchenführern aufzuschließen, wirkte Straßer in seinen ersten Jahren im Weltcup bisweilen so, als würde er Neureuthers Stil kopieren. Doch die Schablone des Vorbilds aus Garmisch passte nicht zum Skilöwen vom TSV 1860 München.
Straßer war weniger einer, der mit kecken Sprüchen auffiel oder den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit suchte. Wer ihn im Training begleitet, begegnet einem Sportler, der auf die Sache konzentriert ist: darauf, gut Ski zu fahren, den Ski möglichst nah an der Stange zu bewegen – aber eben nicht zu nah, um dem Einfädler zu entrinnen. Straßer hat seinen eigenen Stil gefunden, fernab der TV-Kameras, aber auch im Scheinwerferlicht, etwa in Kitzbühel und Schladming, wo er vergangenen Januar den Coup landete und bei den beiden wichtigsten Weltcuprennen des Slalomwinters siegte. Mit dem Gewinn der Gams von Kitz ist Straßer einen großen Schritt aus Neureuthers Schatten getreten. Wenn man so will, ist Straßer Neureuthers Erbe, nur eben offenbar mit gesundheitlichen Vorteilen.
Vielleicht machte ihn dieser Nimbus in dieser Weltcup- und WM-Saison zum stärksten Linus Straßer, der je auf Skiern stand: Nichts ist zu sehen von jenen massiven Rückenproblemen, die etwa Neureuther in seinen letzten Karrierejahren plagten. Viele Biografien von Skifahrern, auch von Technikspezialisten, lesen sich ja wie Veteranen-Akten. Manuel Feller, die große österreichische Slalomhoffnung für die Heimweltmeisterschaft in Saalbach, kämpft ähnlich wie einst Neureuther seit Jahren mit dem Rücken. Der ebenfalls 32 Jahre alte Feller berichtete unlängst davon, wie sehr ihn das Kreuzweh einschränkt. Vergangenen Winter profitierte Feller davon, dass der Deutsche die ersten Rennen „vergeigt“ hat, wie Straßer es nennt. Und heuer?
Vergangenen Winter bekam Straßer einen neuen Servicemann, beide mussten sich samt Material einspielen. „Das hat einfach auch gebraucht“, sagt Straßer. Inzwischen hätten die beiden das „richtige Set-up“ gefunden. „Heuer bin ich da mindestens einen Schritt voraus.“
Neu ist auch, dass die Slalom-Konkurrenz um zwei Rückkehrer reicher ist: Neureuthers ehemaliger Dauerrivale Marcel Hirscher, 35, wird auch in Levi starten. Der Österreicher, inzwischen unter niederländischer Flagge unterwegs, dürfte aber nach Platz 23 beim Riesenslalom in Sölden nicht als ernsthafter Mitfavorit um den Sieg gehandelt werden. Dafür kommt eher Lucas Braathen infrage, der nach einem Jahr Pause bei seinem Comeback – nun für Brasilien – in Sölden Vierter wurde. Ein verlässlicher Sieganwärter ist der Franzose Clément Noël, unter anderem als Slalom-Olympiasieger von Peking dekoriert. Und dann wäre da noch der Double-Sieger vom TSV 1860.