Ski alpin:Fliegende Rennsemmel

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"Die Fabi war schon immer ein Draufgängertyp", sagt ihr Vater Claudio Dorigo. "Sie zieht vor nix zurück, gibt Vollgas, will auf Sieg fahren." Nur manchmal "überpowert sie". (Foto: Marc Amann / oh/Marc Amann / oh)

Fabiana Dorigo ist schnell. Ihr Problem: Sie kommt nie ins Ziel. Jetzt trainiert die 22-Jährige vom TSV 1860 München gemeinsam mit der Neuseeländerin Alice Robinson in einer privaten Gruppe um den ehemaligen Coach von Lindsey Vonn. Das kostet Geld. Aber die Investition scheint sich auszuzahlen.

Von Thomas Becker, München

Das Kürzel DNF hat viele Bedeutungen. Mathematiker verstehen darunter Disjunktive Normalform, irgendwas mit Aussagenlogik. Apnoetaucher kürzen so "do not fly" ab, die Zeit nach dem Tauchgang, während der man nicht höher als 400 Meter über den Tauchplatz aufsteigen sollte. Zocker wissen, dass es sich um den Ego-Shooter "Duke Nukem Forever" handelt, und im Sport bedeutet der Dreiklang "did not finish": nicht ins Ziel gekommen. Kein Athlet will diese drei Buchstaben hinter seinem Namen sehen, auch Fabiana Dorigo nicht, die schon als Skizwerg Rennen fuhr. "Die Fabi war schon immer ein Draufgängertyp", sagt Papa Claudio. "Sie zieht vor nix zurück, gibt Vollgas, will auf Sieg fahren, obwohl sie teilweise noch gar nicht so weit ist. Eine klassische Rennsemmel, die oft auch rausfliegt, weil sie überpowert." So sind mit wenigen Sätzen die Stärken und Schwächen einer 22-Jährigen beschrieben, die für die Ski-Abteilung des TSV 1860 München im alpinen Weltcup an den Start geht. An diesem Wochenende in Val d'Isère tut sie das zum dritten Mal. Bei den Rennen eins und zwei stand am Ende hinter ihrem Namen - man ahnt es: DNF.

Ihr Manko? "Sie hat Probleme mit der Selbsteinschätzung während des Laufs", sagt Bundestrainer Jürgen Graller

Frauen-Bundestrainer Jürgen Graller sagt: "Das Mädel hat was. Sie ist eine Wilde, mit guten Ansätzen, die andere vielleicht nicht haben. Sie hat aber auch ein klares Defizit: Sie kommt nie ins Ziel." Trainingsergebnisse, gute Sektorenzeiten und Fis-Rennen seien da nur "bedingt hilfreich", sagt Graller: "Am Ende des Tages geht es um eine Cup-Wertung, für die man bei mehreren Rennen hintereinander punkten muss - davon ist sie nach wie vor weit weg. Da muss eine Konstanz her." Dennoch darf sie am Sonntag ihr zweites Weltcuprennen in dieser Saison bestreiten. "Im Super-G haben wir mit sieben Startplätzen genug, da darf sie fahren", verspricht Graller, "aber es bringt halt nix, wenn sie nie ins Ziel kommt. Das war im Training bislang auch so. Das ist ihr Manko, das sie in den Griff bekommen muss - auch wenn ihr Schwung schnell ist." Woran die Ausfälle liegen, weiß Graller auch: "Sie kann das Gelände oft nicht gut einschätzen, hat Probleme mit der Besichtigung und der Selbsteinschätzung während des Laufs. Aber ich gebe ihr gern die Chance in der Mannschaft." Der letzte Satz ist von Bedeutung, denn ihr erstes Weltcuprennen im Februar war Fabiana Dorigo zwar im getigerten Race-Dress des DSV gefahren. Statt mit der deutschen Mannschaft war sie jedoch mit dem privaten Team ISRA unterwegs, mit den ehemaligen Trainern von Lindsey Vonn und Julia Mancuso. Wie das?

Nach ersten Erfolgen stagniert Dorigos Entwicklung. Vom Verband heißt es: Es macht keinen Sinn

Das kam so: Klein-Fabiana fährt wie ihre drei Geschwister von klein auf Zwergerl-Rennen, doch "nach ein paar Sport-Scheck-Skikursen sind wir zu der Überzeugung gekommen, dass wir ein bisschen mehr machen wollen", erklärt Vater Claudio, Moderator der Münchner Ski-Meisterschaften am Kitzbüheler Ganslern-Hang und Organisator der "Nacht der Geschwindigkeit" in Oberaudorf. Über Freunde sei man zu den Ski-Löwen gekommen, für die Marina Kiehl 1988 in der Abfahrt zu Olympia-Gold gerast war. Fabiana landet im U-14-Kader des Skiverbands München, dann in dem des Bayerischen Skiverbands und schließlich in der Leistungsgruppe Ib des DSV, im Europacup-Team. Drei Winter lang versucht sie sich in Fis- und Europacup-Rennen, wird aber im vergangenen Jahr ausgemustert. Vater Dorigo sagt: "Die Punkte haben nicht ausgereicht, sie hat sich nicht weiter entwickelt. Es mache keinen Sinn mehr, hieß es vom Verband." Mit 21 Jahren steht seine Tochter vor der Frage: Und jetzt?

Seit 2019 geht Fabiana Dorigo für ein privates Team an den Start. Kosten pro Jahr: fünfstellig

Hinschmeißen will sie nicht, aber den günstigsten Sport hat sie sich nicht gerade ausgesucht. Crowdfunding bringt immerhin 6000 Euro, der Papa organisiert eine Bäckerei als Kopfsponsor - und lässt die Tochter im Herbst 2019 beim Team ISRA anheuern, für einen mittleren fünfstelligen Jahresbetrag. "Der Trend geht im Profi-Sport immer mehr hin zu Privatteams", meint Claudio Dorigo und zählt auf: Pinturault, Hirscher, Kristoffersen, früher Bode Miller und Marc Girardelli. "Mit den Ski-Löwen waren wir letztes Jahr bei einem Fis-Rennen: 26 Teams, davon 16 private - da fragt man sich schon, was für eine Rolle Verbände noch spielen."

Fabiana Dorigo, 22. (Foto: DSV / oh)

ISRA steht für International Ski Racing Academy, besteht aus zwölf jungen Frauen zwischen 16 und 24, von Andorra bis Malaysia, mit der Frontfrau Alice Robinson. Die 19-jährige Neuseeländerin gewann im Vorjahr den Weltcup-Auftakt in Sölden und gilt als eins der größten Talente im Riesentorlauf. Trainiert wird sie von Chris Knight, der von 2015 bis 2018 Lindsey Vonn und von 2006 bis 2012 Julia Mancuso gecoacht hat, sowie von Jeff Fergus, der außer mit Vonn auch mit Ted Ligety und Steve Nyman gearbeitet hat. Champions-League-Coaches für Super-Alice, um die herum ein Vierer-Team für den Weltcup gebildet wurde - darunter auch: Fabiana Dorigo. "Ich habe quasi das Privileg, mit Alice zu trainieren", sagt sie. Die beiden verstehen sich so gut, dass Robinson schon ein paar Tage bei den Dorigos am Tegernsee verbracht hat. Den Papa freut es: "Fabi ist happy, mit der Alice zu trainieren. Schon gut, wenn man sich von so einer was abschauen kann." Wohl wahr: Beim DSV sind Top-Fahrerinnen nach dem Rücktritt von Viktoria Rebensburg spärlich gesät.

Der DSV gibt ihr noch eine Chance. "Sie trainiert privat, was für mich absolut okay ist, wenn man eine enge Abstimmung hat", sagt der Bundestrainer

Nach nur wenigen Monaten scheint das private Training zu fruchten: Im Februar wird Fabiana Dorigo deutsche Jugendmeisterin im Super-G, holt Podestplätze in Fis- und Top-Ten-Ergebnisse in Europacup-Rennen, bestreitet ihren ersten Weltcup-Super-G - und scheidet aus. Dennoch holt sie der DSV zum 1. Mai zurück ins Team. Das Training absolviert sie aber weiterhin bei den ISRA-Coaches, solange sie nicht im Weltcup mit dem DSV unterwegs ist. Bundestrainer Jürgen Graller hat kein Problem mit dieser Konstellation: "Sie trainiert privat, was für mich absolut okay ist, wenn man eine enge Abstimmung hat." Die angehende Bundespolizistin Dorigo meint: "Ich bin froh, dass ich vom DSV die Möglichkeit bekomme, weiterhin mit ISRA trainieren zu dürfen. Das ist ja nicht immer einfach, wenn eine Athletin außerhalb des Verbands trainiert. Aber was ist schon einfach im Leben?" Damit zurück auf die Piste und ran an die Probleme: weg vom unseligen DNF wie zuletzt wieder beim Parallel-Wettbewerb in Lech/Zürs, hin zu Platzierungen hinter dem Namen. Idealerweise schöne niedrige Zahlen. Hauptsache keine Buchstaben mehr.

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