Ski alpin:Einfach drauflos

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"Man denkt sich in jedem Rennen: Das kann nicht fürs Podest reichen" - Marco Odermatt widerlegt Skeptiker und Konkurrenten Woche um Woche. (Foto: Alexis Boichard/Agence Zoom/Getty Images)

Heimsieg auf dem heiligen Hügel: Die Popularität und Erfolge des 24-jährigen Schweizers Marco Odermatt erreichen im alpinen Weltcup Woche für Woche neue Höchststände. Was könnte schon schiefgehen?

Von Johannes Knuth, Adelboden/München

Manchmal verlässt sogar Marco Odermatt das Spielerische. Am Samstag, während des zweiten Riesenslalom-Laufs in Adelboden, da dachte nicht nur der 24-Jährige immer wieder: "Sch...!". Ein Schwung ging daneben, der nächste, noch einer. Aber Odermatt wusste auch so, was er zu tun hatte, damit seine Skier schnell gen Ziel rauschten. Das ist ja das Besondere an Ausnahmekönnern: Sie wissen, dass das Spielerische eine Illusion ist, sie lassen leicht aussehen, was ungemein schwerer ist.

Nicht viele 24-Jährige bewahren die Ruhe auf einem Höllenkurs wie jenem im Berner Oberland: mit dem welligen Terrain, das immer wieder den Rhythmus bricht, dann dem Flachstück, das sich ewig streckt, dabei kreischen die Oberschenkel längst vor Schmerzen. Und dann dieser Zielhang, in dem Odermatt im zweiten Lauf ins Bodenlose zu plumpsen schien wie ein Fallschirmspringer, der hektisch nach der Leine suchte, um seinen Schirm zu öffnen. Und doch verteidigte er sein Guthaben, knapp eine halbe Sekunde lag er vor dem Österreicher Manuel Feller, Platz eins. Als Odermatt im Ziel die rund 10 000 berauschten Fans adressierte, hatte er sein spielerisches Understatement wieder. "Ich hoffe, ich konnte Sie ein wenig unterhalten", sagte er, dann lächelte er, spitzbübisch.

An diesen Samstag werden sie sich noch lange erinnern in Adelboden, die Frage ist nur, ob das allein dem Riesenslalom geschuldet sein wird oder auch den Begleitumständen, aber dazu später mehr. Der Riesenslalom am heiligen Chuenisbärgli, das ist ja eines ihrer schneeweißen Heiligtümer in der Schweiz; Marc Berthod hatte dort vor 14 Jahren als letzter Schweizer gewonnen, nach Ski-Maßstäben seiner Heimat also ziemlich genau 14 Jahre zu lange her. Dass nun Odermatt die Dürre beendete, bündelte eine Menge: Der 24-Jährige, das predigen die Ski-Propheten im Land seit Jahren, ist nicht nur einer für wichtige Rennen, er könnte sehr bald auch Gesamtwertungen und Olympiaweihen auf sich vereinen wie wenige vor ihm. Odermatt, notierte die Neue Zürcher Zeitung vor diesem Winter nüchtern, sei schon jetzt "zum Siegfahrer, Posterboy und mutmaßlich am besten vermarkteten Schweizer Schneesportler aufgestiegen". Umso beeindruckender mutet es an, wie spielerisch er mit diesem Trubel umgeht. Man fragt sich fast zwangsläufig: Kann das wirklich gut gehen, auf Dauer?

Gruß an 12 000 berauschte Fans: Marco Odermatt nach seinem Sieg im Riesenslalom von Adelboden. (Foto: Sebastien Bozon/AFP)

Die Leichtigkeit, mit der der Lockenkopf durch den Weltcup zieht, verhüllt manchmal, wie hochseriös seine Karriere aufgezogen wurde, vor langer, langer Zeit. Vater Walter trainierte den Sohn im Skiclub Hergiswil, wo er viele Jahre Sportdirektor war. Er fuhr den Sohn zu Rennen und präparierte abends dessen Skier. Er baute sogar eine Art Leistungszentrum auf, in das Filius später hineinwuchs und aus dem auch andere Profis hervorgingen. Bei der Junioren-WM 2018 gewann Odermatt fünf Mal Gold, Abfahrt, Super-G, Riesenslalom, Slalom, Teamevent. Das hatte bis dahin noch niemand geschafft. Und während die frühen Weihen schon viele Juniorenchampions in die Knie zwangen, fuhr Odermatt einfach mal weiter drauflos.

Er stand im Weltcup bislang 21 Mal auf dem Podest, sechs Riesenslaloms gewann er, vier allein in diesem Winter. Er wird aber auch in den Schnellfahrten immer flotter, im Super-G triumphierte er schon drei Mal, Ende Dezember wurde er in Bormio auch in der Abfahrt erstmals Zweiter. Im Gesamtweltcup liegt er schon jetzt fast 400 Punkte vor dem Norweger Aleksander Aamodt Kilde, ein gewaltiges Polster. Die Brausesportler von Red Bull haben ihn schon vor ein paar Jahren in ihr Athletenprogramm aufgenommen. Dort erhalten nur die Besten Zugang, Alexis Pinturault, Henrik Kristoffersen, Sofia Goggia - nun auch Odermatt, als erster Schweizer. Kenner sagen, er nutze die Ressourcen aber eher verhalten - während viele Privatjets und Trainingszentren der Österreicher in Anspruch nehmen, vertraut Odermatt auf die Trainingsgruppe des Schweizer Verbandes, dort haben sie sich ja alle in die Weltspitze gezogen: Odermatt, Justin Murisier, Gino Caviezel, Loic Meillard.

Was ihn abhebt von der Manie, dem ständigen Sich-Selbst-Überbieten-Müssen der anderen: Odermatt fährt so, wie er ist, frech, riskant, als würde er seine Skier mit seinem Fahrwitz infizieren. Er hat sich immer seine Freiheiten bewahrt. Noch heute unternehme er viel mit seinen Freunden, hat er einmal erzählt, Tennis, Golf, Skitouren. Odermatt hat auch kein Problem damit zu sagen, was andere nur denken: Als beim Saisonfinale im vergangenen Winter in Lenzerheide Abfahrt und Super-G ausfielen, kritisierte er die Veranstalter für die schlechte Präparierung. Die Absagen machten es Pinturault jedenfalls nicht schwerer, den Gesamtweltcup zu gewinnen, knapp vor Odermatt.

"Die Schweizer versuchen an einem Wochenende, gleich alle zu durchseuchen", sagt Manuel Feller über die Kulisse in Adelboden

Doch anders als der Franzose hat Odermatt den Schwung in den neuen Winter genommen, in jeder Hinsicht. Er verhehlt nicht, dass er diesmal die Weltcup-Gesamtwertung erstehen will, und auf der Piste, da leuchten seine Stärken immer heller, während seine Schwächen verblassen, das Gleiten auf der Abfahrt etwa. Odermatt macht schon noch Fehler, aber er macht diese nur einmal, sagen die, die ihn kennen. Und selbst, wenn er patzt, stellt er die Skier so an, dass sie ihn weiter nach vorne ziehen, mit Kraft und Intuition, die er sich als Kind erwarb, wohl auch beim freien Fahren im Gelände. "Man denkt sich in jedem Rennen: Das kann nicht fürs Podest reichen", sagt Andreas Sander, der deutsche WM-Zweite in der Abfahrt. Odermatt fahre "einfach drauf los, das ist die junge Unbekümmertheit. Und dann rettet er sich irgendwie, weil er es auch technisch drauf hat."

Also: Was könnte schon schiefgehen?

Nun, irgendwann werden auch Ausnahmekönner von den Nebenwirkungen ihres Gewerbes eingeholt, gerade die, die einfach drauflosfahren, die Schweizer kennen sich da aus. Marc Berthod, der einstige Adelboden-Sieger, klang nach vielen Verletzungen leise aus; und Daniel Albrecht, noch so ein Edelfahrer, der stürzte in Kitzbühel so schwer, dass er das Sprechen und Gehen neu lernen musste. Odermatt wird es brauchen, sein wehrhaftes Gemüt: wenn es mal nicht weitergeht.

Am Wochenende war das natürlich weit weg. Er habe das "noch nie erlebt", sagte Odermatt: diesen Druck, dann die Emotionen, die (weitgehend maskenlosen) Fans im Ziel. Nicht nur Manuel Feller, dem Kollegen aus Österreich, war das etwas zu viel: "Die Schweizer", sagte er, halb im Scherz, "versuchen an einem Wochenende, gleich alle zu durchseuchen". Und Odermatt? Bewahrte auch da seine Ruhe. "Die Situation hat sich in den letzten Wochen angespannt", sagte er, "gleichwohl muss man probieren, den heutigen Tag aufzusaugen. Dafür", sagte er, "arbeitet man schließlich das ganze Jahr."

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