Die Aktion erforderte etwas zivilen Ungehorsam, aber sie schaffte es immerhin, die Veranstaltung aus ihrer geschäftsmäßigen Monotonie zu reißen. Ein paar Anhänger hatten sich am Samstag an der Bahntrasse versammelt, die hinter dem Ziel der Weltcup-Piste in Garmisch-Partenkirchen verläuft, und bejubelten Simon Jocher, den einzigen Starter des gastgebenden SC Garmisch. Zwei Polizisten teilten den Enthusiasmus nur bedingt, sie baten die ungebetenen Gäste hinters Gleis zurück - Jochers Eltern und Geschwister, wie der Gefeierte später berichtete. Irgendwann lugte nur noch ein Plakat mit einem zerknitterten "Auf geht's Simon!" hinter dem Bahndamm hervor. Hören konnte man den Fanklub aber noch prächtig.
Jocher, 24, ist seit diesem Winter festes Mitglied der alpinen Speed-Mannschaft im Deutschen Skiverband (DSV). "Endlich bin ich nicht mehr der Jüngste", hatte Thomas Dreßen, 27, zuletzt gescherzt. Die Kollegen schätzen Jocher aber nicht nur als Zielscheibe von Altersspäßen, er kommt verlässlich unter den besten 30 ins Ziel, jüngst als 15. in Bormio etwa. Am Samstag verantwortete er sogar den wertvollsten Ertrag aus deutscher Sicht: Romed Baumann hatte den Super-G als Zehnter beendet, aber dessen Anspruch ist höher, das Podium nämlich, das diesmal die Österreicher Vincent Kriechmayr und Matthias Mayer sowie der Schweizer Marco Odermatt besetzten. Jocher hatte als 18. das Beste aus seinen Möglichkeiten gemacht, auch deshalb konnte er seinen Anhang später nur kurz besuchen: Er fuhr gleich weiter zur WM nach Cortina d'Ampezzo, die an diesem Montag beginnt.
Es ist eine andere Stimmung, mit der das zwölfköpfige Aufgebot des DSV diesmal zu den globalen Titelkämpfen reist. Vorbei die Ära von Viktoria Rebensburg und Felix Neureuther, die dem Team auch dann Halt (und Medaillen) verschafften, wenn allen anderen der Halt entglitt. Dreßen hat es zwar noch unerwartet ins Aufgebot geschafft nach seiner Hüft-OP; die "Galionsfigur, die wir im Augenblick im deutschen Skirennsport haben", wie Wolfgang Maier schwärmte, der Alpindirektor im DSV. Aber da bleibt abzuwarten, ob Dreßen sich in den Trainingsläufen bis zur Abfahrt am kommenden Sonntag noch mehr Wehrhaftigkeit und Selbstvertrauen aneignen kann. Den Super-G am Dienstag wird er auslassen, das bestätigte Maier am Samstag.
Die Männer schultern diesmal die größten Hoffnungen
Bei den Technikern? Da reist Linus Straßer zwar mit der Euphorie seines ersten Slalom-Sieges von Zagreb an, allerdings steckten ihm zuletzt vier schwächere Rennen in den Knochen. Auch Alexander Schmid, Dritter im Parallelrennen in Lech/Zürs, und Stefan Luitz hatten zuletzt Probleme - Schmid bei der Suche nach der Materialabstimmung im Riesenslalom, Luitz nach einem Muskelfaserriss, der ihn bis zuletzt in die Reha zwang. Trotzdem bewerbe man sich um zwei Einzelmedaillen, je eine bei Männern und Frauen, bekräftigte Maier: "Wir haben keinen, der das Podium permanent attackiert, aber wir haben eine Mannschaft, die man nicht unterschätzen darf." Es ist ihre größte Stärke diesmal: die Rolle der ambitionierten Außenseiter, die all ihren Mut in ein Rennen werfen - was bei Großereignissen gerne mal belohnt wird.
Manchmal aber auch nicht.
Die größte Reisegruppe stellt diesmal das Speed-Team der Männer, mit fünf Startern, die sich in der Abfahrt um vier Startplätze streiten: neben Baumann, Sander, Dreßen und Jocher noch Dominik Schwaiger. Der sachte Konkurrenzkampf schade sicher nicht, fand Maier, denn: "Hungrige Wölfe jagen am besten." Der Routinierteste im Rudel ist Baumann, 35, der gerade seinen zweiten (oder dritten? vierten?) Frühling erlebt und sich über die Fallen eines Großevents längst nicht mehr den Kopf zermartert: die Konkurrenz, der Super-G gleich zu Beginn, ohne Trainingslauf, die schlechte Wetterprognose für die ersten WM-Tage, die neue Männer-Piste in Cortina, die kaum einer kennt, weil der Weltcup dort im Vorjahr wegen der Corona-Pandemie ausgefallen war. Vielleicht, sagte Baumann mit Blick auf die WM, "geht mir dann mal eine Granate auf". Am Samstag trennte ihn erneut nicht viel von den Podiumsgästen, drei Zehntelsekunden fehlten ihm zu Platz drei.
Andreas Sander, der sich zuletzt ebenfalls oft knapp neben dem Podest eingefunden hatte, beteuerte indes, wie sehr er den Nervenkitzel des Großereignisses schätze. Letztlich, sagte der 31-Jährige entwaffnend ehrlich, rede man sich seine Generalprobe ja "immer auch schön". Sein durchwachsenes Wochenende in Garmisch, die Ränge 13 im Super-G und 24 in der Abfahrt, wolle er nicht zu hoch einhängen. Und wenn er groß aufgespielt hätte? "Hätte ich jetzt auch eine gute Antwort parat gehabt", sagt er. An zu großer Verbissenheit wird es bei ihm jedenfalls nicht scheitern.
Die WM, auch das steht bereits fest, wird einen weiteren Trend im deutschen Team festigen: Die Männer schultern die größten Hoffnungen; in der Vergangenheit war diese Aufgabe oft den Frauen zugefallen. Neben Rebensburg hatte sich zuletzt auch Christina Ackermann zurückgezogen, viele Läuferinnen aus der Mittelschicht und dem Nachwuchs sind verletzt oder schafften es nicht, sich in die erweiterte Weltspitze vorzudrängeln. So komplettieren Kira Weidle, Lena Dürr und Andrea Filser das Aufgebot. Letztere war den ursprünglichen Qualifikationskriterien - einmal Platz acht oder zweimal Platz 15 - zumindest nahegerückt mit zwei 22. Rängen im Riesenslalom (ähnlich wie Sebastian Holzmann im Slalom). Weidle wollte ursprünglich schon am Montag in der Kombination starten, aber nur im Super-G, als Testfahrt für den Speziallauf am Tag darauf. Sie verzichtete jedoch, weil Super-G und Slalom kurzfristig getauscht wurden. Die größte Chance hat sie am Samstag, in der Abfahrt zählt sie zu den Mitfavoriten.
Noch eine hungrige Wölfin, wenn man so will. Wenn auch eine recht einsame bei den deutschen Frauen.