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Technik im Skisport:"Das Material überholt allmählich den Körper"

Lesezeit: 8 Min.

Der ehemalige Skiprofi Marco Büchel kümmert sich heute um das Thema Sicherheit im Weltverband. Er spricht über das Risiko von Verletzungen, Angst bei der Abfahrt - und Schwierigkeiten nach der Karriere.

Interview von Johannes Knuth

SZ: Herr Büchel, was war zu Ihrer aktiven Zeit Ihre schwerste Verletzung?

Marco Büchel: Ich habe mir einmal den Arm gebrochen, hatte einen Sehnenriss, eine Schulter- und Rippenfraktur. Und einmal habe ich mir die Nase gebrochen.

Gar nicht mal so schlecht für ...

... 19 Jahre im Weltcup. Ich war zu Beginn ja Riesenslalom-Spezialist, die letzten zehn Jahre fuhr ich Abfahrt und Super-G. Ich bin verdammt gut rausgekommen.

Glück oder Können?

Ich hatte sicherlich auch ein wenig Glück. Aber als ich jung war, gab es noch diese dünnen, langen Latten, da waren die Fliehkräfte in den Kurven noch nicht so groß. Meine Bänder konnten sich ganz natürlich ausbilden, und als die Carving-Skier kamen, war mein Körper fast schon erwachsen. Nimm einen Teenager heute: Der fährt mit dem Material schon im Nachwuchs Radien, die sind faszinierend. Hat er die Kraft, das immer zu halten? Nein. Die Muskeln dafür kann man trainieren, die Bänder nicht.

Es gibt heute fast keinen Fahrer mehr in der Weltspitze, der nicht schon mal einen Kreuzbandriss hatte. Markus Waldner, der Rennchef des Ski-Weltverbands Fis, hat zuletzt einigermaßen ratlos festgehalten: "Das Radl ist überdreht."

Man dreht sich im Kreis, das stimmt. Wir haben das ja im Riesenslalom gesehen, wo man vor ein paar Jahren die Taillierung der Skier verändert hat. Dadurch hatten die Athleten Mühe, die Skier zu drehen - das hat zwar etwas weniger auf die Bänder geschlagen, aber mehr auf den Rücken. Das grundsätzliche Problem ist, dass das Set-up immer aggressiver wird. Die Skier sind schwer, die Pisten hart, um eine gewisse Chancengleichheit zu wahren. Also werden Bindung, Platte und Schuh so abgestimmt, dass der Athlet mit der kleinsten Bewegung den Ski bewegen kann. Das ist wie bei einem Sportwagen, wo der kleinste Steuerbefehl den Wagen lenkt.

Und das kann man nicht zurückdrehen?

Ein Athlet hat heute zwei Möglichkeiten: Entweder er nimmt ein aggressives Set-up, mit dem er schnell sein wird - aber es ist gefährlich. Oder er nimmt eines, das verzeihend ist, aber langsam. Da wählt ein Athlet immer das gefährlichere Paket. Er will ja gewinnen. Wir kommen nur gerade an einen Punkt, das ist jetzt meine Ansicht, an dem das Material den Körper allmählich überholt. Thomas Dreßens Verletzung in Beaver Creek war ein Klassiker. Er ist physisch bärenstark und steht sicher auf dem Ski, aber seine Gewichtsverteilung war einmal nicht ganz perfekt - schon ist das Kreuzband ab, bevor er überhaupt das Netz küsst. Früher gab ein Ski noch nach und rutschte weg. Heute läuft er wie auf einer Eisenbahnschiene in eine Richtung, und dein Körper geht in eine andere. Da ist das Kreuzband nun mal die Sollbruchstelle in diesem Spiel.

Sie haben also auch keine Lösung?

Man könnte die Carving-Skier natürlich verbieten, dann fährst du mit dem Material von 1990. Aber wollen Sie heute ein Formel-1-Auto aus den Neunzigern sehen?

Manche fänden das sicher toll.

Das würden im Skisport auch einige toll und lustig finden ...

... vor allem, wenn die Touristen neben der Rennstrecke mit dem brandneuen Material vorbeicarven würden.

Der Alpinsport ist nun mal ein Schaufenster für die Firmen, ihr neuestes Material zu präsentieren. So wird das Radl natürlich auch weitergedreht.

Sie sitzen in der Arbeitsgruppe Material und Sicherheit im Ski-Weltverband Fis, neben den Ex-Profis Pernilla Wiberg und Florence Masnada, dem Schweizer Trainer Karl Frehsner sowie Karlheinz Waibel aus Deutschland und Toni Giger aus Österreich, die viel sportwissenschaftliches Wissen mitbringen. An welchen Schrauben versuchen Sie da zu drehen?

Wir wollen die Fahrer dazu bringen, ein weniger aggressives Set-up zu wählen. Ein Mittel ist es, die Pisten unruhiger zu gestalten, mit mehr Wellen und Schlägen. Das nimmt Tempo raus, weil die Athleten aufrechter fahren müssen, um sich besser konzentrieren zu können. Je teppichglatter die Piste ist, desto mehr gehen die Athleten tief in Position und suchen komplett das Limit. Das hatten wir vor drei Jahren in Garmisch bei den Männern, da gab es eine Verletzungsorgie. Die Athleten mögen natürlich keine unruhigen Pisten, ich habe das auch nicht geliebt - aber es hilft zu einem gewissen Grad. Man soll ja auch sehen, dass eine Abfahrt herausfordernd ist. Wir dürfen eines nie vergessen: Es ist ein Extremsport, so oder so.

Was immer wieder auffällt: Wie langsam Vorschläge, auch aus Ihrer Arbeitsgruppe, umgesetzt werden - wenn überhaupt.

(seufzt) Die Fis ist ein demokratisch geführter Verband. Da müssen Mehrheiten in Versammlungen gefunden werden. Wir haben in Kitzbühel zuletzt mit der Arbeitsgruppe getagt, da ging es um schnittfeste Anzüge, die man unter dem Rennanzug trägt und die verhindern, dass ein Fahrer sich etwa an einer Skikante verletzt. Da haben wir mittlerweile Materialien entwickelt, die sind unglaublich elastisch und trotzdem sehr schnittfest. Wir wollen das am liebsten sofort umsetzen. Geht aber nicht - das muss das Alpin-Board der Fis erst bei seiner Frühlingssitzung annehmen und dann dem Council empfehlen.

Aber es gibt ja viele andere Dinge, die seit Jahren nicht vorankommen. Der Airbag, der bei einem Sturz Luftpolster rund um Rücken und Hals aufbläst, wird bis heute längst nicht von allen Athleten getragen.

Das ist wie in der Politik. Da denkst du: Vom Menschenverstand her müsste man doch dieses oder jenes tun. Aber wir haben auch eine Lobby für das, eine Lobby für jenes. Wenn der Airbag zum Beispiel wirklich für alle Läufer verpflichtend werden sollte, dann hätten ein bis maximal zwei Ausrüsterfirmen ein Monopol. Und das ist nicht gewollt, auch mit Blick auf den Wettbewerb im freien Verkauf.

Der Alpinsport zehrt ungemein von seiner Tradition. Tut er Ihrer Meinung nach genug, um in der Neuzeit relevant zu sein?

Die klassischen Disziplinen, also Slalom, Riesenslalom, Abfahrt, gibt es seit Gründung des Weltcups. Das war 1966. Es wäre an der Zeit, da mal was zu drehen, finde ich. Vielleicht mal mit einer Nachtabfahrt. Oder kleineren Startfeldern für Slalom und Riesenslalom, sodass zwischen dem ersten und zweiten Durchgang nicht drei Stunden vergehen. Man hat jetzt diese Parallelrennen, aber zu denen habe ich ein ambivalentes Verhältnis.

Warum?

Das Format ist leicht zu verstehen und kurzweilig, aber der sportliche Wert ist nicht hoch. Ein Marcel Hirscher verliert bei der WM 2017 gegen einen Belgier - bei allem Respekt, aber in einem normalen Slalom ist das undenkbar. Parallelrennen sind eine nette Visitenkarte, so sehe ich das. Was ich schade finde, ist, dass sich die Fis diesbezüglich nicht klar bekennt. Jetzt gibt es endlich eine Kristallkugel für den besten Parallelfahrer (am Wochenende wird bei den Männern in Chamonix bereits der Sieger gekürt; Anm. d. Red.). Aber dann gibt es mal einen Parallel-Riesenslalom, mal einen Parallel-Slalom, mal zwei Läufe in einer Runde, am Ende nur einen. So ist ein im Grunde einfaches Format schon wieder nicht so einfach.

Der deutsche Abfahrer Thomas Dreßen hat kürzlich auch gefordert, das Preisgeld unter den Athleten besser zu verteilen ...

Ich sag jetzt nicht, bei welcher Weltcup-Abfahrt mir das passiert ist: Aber es gab damals absolute Rekordeinschaltquoten, und ich wurde Fünfter oder Sechster. Dafür bekam ich 4000 Euro, eine Uhr und eine Zinkkanne. Da habe ich mich schon gefragt: Und dafür riskiere ich mein Leben? Das Problem ist: Wer zahlt's? Derzeit machen es die Veranstalter, aber die Veranstalter, das sehen wir gerade in Wengen und Adelboden, die erwirtschaften sogar bei Rekordzuschauerzahlen ein Minus!

Das muss man auch erst mal schaffen ...

Nun, in Adelboden ist das Budget von 340 000 Franken im Jahr 1992 auf knapp sieben Millionen gestiegen. Da spielt vieles rein, die Pistenpräparierung, Vorschriften der Fis, größere Zuschauertribünen, Sicherheitsmaßnahmen. Wir dürfen nicht vergessen: In den Alpen ist unser Sport riesig, in Deutschland immerhin Wintersport Nummer zwei oder drei. Aber weltweit sind wir ein Furz in der Landschaft! Da zirkulieren nicht Millionen an TV- und Sponsorengeldern wie im Fußball.

Man könnte ja zumindest das Gefälle beim Preisgeld mildern.

Ab dem dritten Rang geht es oft schlagartig nach unten, das stimmt. Da brauchst du als Athlet eine gewichtige Portion Leidenschaft, damit du diesen Sport betreibst.

Sie selbst haben damals auch Jahre gebraucht, ehe Sie in lukrativere Spitzenregionen vordrangen ...

In den Neunzigerjahren war noch mehr Geld vorhanden. Erstens hatte ich mehrere Verträge: je einen für Ski, Bindung, Schuh, Helm, Handschuhe. Heute bietet dir eine Firma fast alles in einem Paket an - sie zahlt aber nicht mehr. Zweitens erhielt man damals hohe Fixbeträge von Sponsoren, die sind über die Jahre enorm gesunken. Dafür wurden leistungsgebundene Prämien immer populärer. So verdienen die Besten mehr oder gleich viel wie früher, die anderen immer weniger. Auf dem Podest haben halt nur drei Fahrer Platz, und das sind oft auch noch dieselben. Zu meiner Zeit hast du als 15. der Weltrangliste noch Geld auf die Seite gebracht. Heute überlebst du. Und als 30. legst du drauf.

Wir sprachen schon über die enormen Berufsrisiken, die gerade die Abfahrer eingehen. Sie wurden damals zwar nicht von Verletzungen aus ihrem Sport geworfen, dafür durch eine Art mentalen Einbruch.

Die Abfahrt geht nun mal enorm an die Substanz, körperlich und auch mental - vor allem wegen dieser extremen emotionalen Momente, in die man sich hineinbegibt. Wenn man dauerhaft damit torpediert wird, ist das Hirn irgendwann überladen. Ich hatte aber auch da Glück, dass mir das erst spät in meiner Karriere passiert ist, mit 37. In meinem letzten Winter hatte ich wirklich vor jeder Abfahrt Angst.

Wie äußerte sich das?

Ich stand in der Früh auf, und auf meiner Brust lag ein tonnenschwerer Felsklotz, der mir die Luft genommen hat. Ich habe mich jedes Mal vor dem Moment im Starthaus gefürchtet. Die letzten zwei, drei Minuten waren die Hölle!

Man könnte ja aus dem Starthaus raus ...

Kann man schon, hintenraus. Aber das braucht noch mehr Mut (lacht).

Kann man diese Ängste thematisieren in der Szene?

Das ist auch nicht einfach. Angst ist ja ein Gefühl, das in deinem Unterbewusstsein steckt. Und jeder Abfahrer ist ein Meister darin, dieses Gefühl leise zu stellen. Nicht komplett leise, weil Angst einen auch vor Unfällen bewahrt - aber du musst sie herunterdimmen. Am besten war es noch während des Rennens, weil du auf der Strecke alle Hände voll zu tun hast. Das ist, als ob du fünf Bälle auf einmal jonglierst, während die Landschaft mit 150 Stundenkilometern auf dich zufliegt. Was du da an einem Tag erlebst, egal auf welcher Abfahrt - das erlebe ich heute nicht in einem Jahr.

An dieser Leere nach den gewaltigen Extremen sind nicht wenige Profisportler in ihrem zweiten Leben zerbrochen. Wie haben Sie den Übergang gemeistert?

Ich habe den ersten Sommer nach meinem Rücktritt das Leben genossen, das war wie in den Flitterwochen. Dann begannen die ersten Rennen der neuen Saison, und ich hatte Tränen in den Augen. Da kam die Frage auf: Wer bin ich? Ich wurde ja eine Karriere lang durch Zahlen definiert. Wie viele Kilo habe ich gestemmt, wie viele Trainingsläufe gemacht, wie viel Vorsprung oder Rückstand hatte ich im Ziel? Ich weiß noch, wie ich das erste Mal für das ZDF ein Rennen kommentieren durfte. Am Ende bin ich zum Sendungsleiter und habe aufgeregt gefragt: Wie war ich?

Und?

Er sagte: Sehr gut! Und ich: Wie, sehr gut? Gib mir einen Rang, eine Note! Ich war wirklich verloren, weil da nirgends eine Zahl stand. Natürlich bin ich damals in ein Loch gefallen, wie viele. Es brauchte zwei Jahre, dann bin ich angekommen. Vielleicht hilft das Alter, dass man diese Höhen und Tiefen nicht mehr so braucht. Heute bin ich froh darüber. Ich fahre Motorrad, aber langsam. Ich laufe alpine Marathons, 42 Kilometer bergauf im Sommer durch die Berge, aber ohne Pulsuhr oder irgendwas. Ich sage mir davor nur: Das wird jetzt ein langer Tag, genieße ihn! Viele Sportler realisieren das erst spät, aber das zweite Leben ist länger als das erste.

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Quelle:
SZ vom 07.02.2020
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