Auf den ersten und zweiten Blick ist der FSV Inningen ein Verein wie jeder andere. Die Fußballer spielen in der Kreisklasse Augsburg Süd, die Tennis-Herren in der Bezirksklasse 2, auch Kegler, Stock- und Bogenschützen gibt es, sogar eine Schafkopf-Abteilung. Und doch passiert mit dem kleinen Vorstadtklub an der Wertach gerade Ungeheuerliches, wie der Vereinshomepage zu entnehmen ist: "Erstmalig in der Geschichte des FSV Inningen schafft ein Mitglied die Teilnahme an Olympia! Tyler Edtmayer aus Lenggries qualifizierte sich in der Disziplin Skateboard Park vor kurzem für die Olympischen Spiele in Tokyo. Dies bestätigte Ende Juni 2021 die Dachorganisation Worldskate und Anfang Juli 2021 auch der DOSB." Sachen gibt's.
So viel vorneweg: Das ist alles korrekt und keine Gaunerei, wie sie in diesem Internet zuweilen vorkommen soll. Seit Mitte der neunziger Jahre wird in Inningen Skateboard gefahren, 1998 wurde ein Skatepark eingeweiht, mehrfach umgebaut und steht jetzt mit seinen Speedbumps, Miniramps und Quarterpipes für eine fünf Euro teure Tageskarte zur Verfügung. Für die Leistungsansprüche eines Profis wie Edtmayer taugen die Dimensionen des Inninger Parks jedoch nicht. Aber warum ist der im 130 Kilometer entfernten Lenggries beheimatete Bursche dann seit 2017 Mitglied beim FSV?
Jetzt kommen die Statuten ins Spiel, eine Disziplin, in der eher freigeistig veranlagte Skateboarder nur bedingt zuhause sind. Auf der FSV-Homepage ist das wunderbar stringent erklärt: "Damit das Ausnahmetalent in den Nachwuchskader des Deutschen Rollsport und Inline Verbands (DRIV) aufgenommen werden konnte, benötigte er einen Verein, der im Bayrischen Rollsport- und Inline Verband (BRIV) Mitglied ist. Dies konnte ihm in Bayern der FSV Inningen als Vorreiter mit Strukturen des organisierten Rollsport und einer hundertprozentigen Fokussierung auf Skateboarding bieten (keine Scooter und BMX auf der Anlage erlaubt)."
Auf Olympia hat sich Edtmayer in Amsterdam und Schweden vorbereitet, in seiner Nähe gibt es keinen geeigneten Park
Am 3. August 2016 hatte das IOC beschlossen, die Trendsportart ins olympische Programm aufzunehmen. Dass der damals 15-jährige Tyler tatsächlich mal im Ariake Urban Sports Park in Tokios Süden an den Sommerspielen teilnehmen würde, war da noch ganz schön weit weg. Dabei hat er früh anfangen: Edtmayer ist in Kalifornien geboren, Redondo Beach, ein paar Meilen südlich von Los Angeles. Mit drei stand er erstmals auf dem Brett, in einem dieser Skateparks, die man in Deutschland vergeblich sucht. Gerade war er in Amsterdam, Berlin und Schweden: "Da sind die Parks einfach so gut! Das war eine super Vorbereitung für Olympia. In Deutschland gibt es einfach keine guten Parks. In Leipzig ist zwar gerade einer fertig geworden, aber in meiner Nähe ist nichts, wo ich mich für Olympia gut hätte vorbereiten können."
Seit er zehn ist, pendelt er deshalb von Lenggries über den Achenpass nach Österreich, zuerst nach Innsbruck, später nach Brixlegg im Alpachtal, zur einzig adäquaten Trainingsmöglichkeit weit und breit. Jahrelang chauffierte ihn Mutter Amy, und als Edtmayer mit 17 in Begleitung eines Erwachsenen selbst fahren durfte, setzte sich die 80-jährige Oma auf den Beifahrersitz. Alles für Olympia.
Mit der Underground-Kultur, dem Abhängen und Biertrinken könne Tyler nicht viel anfangen, sagt seine Mutter: "Tyler ist nicht der typische Skater. Er ist ein Wettkampf-Typ, war immer schon total ehrgeizig. Aber erst mit zwölf haben wir gecheckt, wie gut er ist." Mit 13 schaffte der Sohnemann über knüppelhartem Beton den ersten McTwist, ein vorsichtig ausgedrückt vogelwildes Manöver.
Aber schmerzfrei sind sie ja alle, die Skater. Wohl in keiner anderen Sportart schlägt man mit unschöner Regelmäßigkeit so oft und so hart auf. Einmal landete Edtmayer mit Leberblutung im Krankenhaus, er hatte sich bei einem Sprung den Ellbogen in den Magen gerammt. In Pennsylvania, tiefstes Amish Country, durfte er als 14-Jähriger sechs Wochen in einem Skate-Camp mitarbeiten: tagsüber trainieren, abends in der Kantine Burger braten. Normalerweise kostet so ein Camp 1500 Euro pro Woche - und so briet der Teenager eben Burger, um seinen Traum leben zu können.
Dass der in Tokio nun tatsächlich in Erfüllung geht, lag lange in der Luft, war aber erst Ende Mai endgültig klar, wie der deutsche Meister von 2018 und 2019 sagt: "Das ganze letzte Jahr war richtig chaotisch. Da hat ja nicht wirklich irgendwas stattgefunden. Zum Glück habe ich mich schon vor Corona bei den Quali-Events gut reinplatziert." Dieses Jahr gab es nämlich nur einen einzigen Wettkampf: die Dew-Tour in Des Moines, Iowa. Theoretisch hätte er da noch aus dem Kader fallen können, verpasste auch das Finale, hatte aber Glück, dass die direkten Konkurrenten ebenfalls patzten und ist somit neben der 14-jährigen Berlinerin Lilly Stoephasius der einzige deutsche Skateboarder bei der Olympia-Premiere dieser Disziplin.
Für die Sommerspiele hat Edtmayer auf den Abschluss an der Fachoberschule verzichtet - vorerst
Sogar den Abschluss der Fachoberschule hat er dafür im vergangenen Jahr drangegeben, erst mal, wie er sagt: "Da hätte ich Abitur schreiben und mich auf Olympia vorbereiten müssen, was ich mir aber beides gleichzeitig nicht antun wollte. Das mit der Schule kann ich immer noch machen. Jetzt ist erst mal Olympia dran. So eine Gelegenheit gibt's nur einmal im Leben, die darf man sich nicht entgehen lassen. Ich freue mich absolut darauf."
Mit 20 Jahren ist Edtmayer schon einer der Älteren im Konzert der 20 Top-Fahrer. Und mit 1,87 Metern auch einer der Längsten, was in diesem Gleichgewichtssport schwerpunkttechnisch gesehen eher hinderlich ist. Dafür nutzt ihm die stattliche Größe auf einem ganz anderen Feld: beim Modeln. Mit 14 oder 15 war er bei einem Skate-Contest in Prag von einer Model-Agentin angesprochen worden: "Aber da musste ich noch eine Weile warten: Für den Laufsteg war ich noch zu klein. Als Mann muss man da mindestens 1,85 Meter sein." Auch diese Hürde hat der Blondschopf genommen, ist mittlerweile bei mehreren Agenturen in ganz Europa in der Kartei: "Ein sehr guter Nebenverdienst", sagt er, "ich kann ja nicht wirklich einen normalen Job machen."
Apropos normal: Das werden diese Olympischen Spiele natürlich nicht werden. Tyler Edtmayers Programm sieht so aus: Abflug am 27. Juli, in Tokio zwei, drei Tage Quarantäne, pendeln vom Olympia-Dorf zum Skatepark und zurück, Wettkampf am 5. August, Rückflug zwei Tage später. "Es ist Olympia, und ich darf mir überhaupt nichts anderes anschauen", klagt er, "das ist richtig schade. Aber es gibt ja noch Paris 2024." Spätestens dann kommt der FSV Inningen aber ganz groß raus.