Schon immer zählte das Turnen zu den Sportarten, in denen nach Wettkämpfen gestritten wird. Im Turnen wird nicht gemessen, sondern gewertet, und mancher Unterlegene vermutet Absprachen unter den Kampfrichtern befreundeter Nationen. So ist das, aber nur wenn es schlecht läuft, dringen die Debatten nach außen. Insofern wird die Rhythmische Sportgymnastik (RSG) - eine der drei olympischen Turndisziplinen - nun von einem nie da gewesenen Vorgang erschüttert. Der Welt-Turnverband (FIG) selber wittert in seinem eigenen Laden Systembetrug. Er hat die Ergebnisse der Kampfrichterkurse für den neuen Olympiazyklus annulliert. Sechs der sieben Mitglieder des Technischen Komitees sind bis Ende 2014 suspendiert worden.
Es geht um Manipulationen, um Freundschaftsdienste unter Kampfrichtern und um den Verdacht, Noten könnten unter dem Tisch verschoben werden. Ausgegangen ist alles vom obersten Gremium der Disziplin, das den rechtmäßigen Ablauf der Wettbewerbe zu garantieren und die Kampfrichterinnen zu prüfen hat. Offen ist die Frage, von wem die Ende August in Kiew stattfindende WM durchgeführt werden soll. Es geht auch um die Glaubwürdigkeit der RSG, und schließlich um den Ruf des gesamten Turnens, das schon manchen Kampfrichterskandal bei Olympia überstehen musste.
Auch deshalb ist FIG-Präsident Bruno Grandi, 79, das Ganze offensiv angegangen. Nach sechsmonatigen Untersuchungen der Disziplinarkommission wurden die Sanktionen offiziell verkündet - per Pressemitteilung. Sie treten am Mittwoch in Kraft.
Schwierigkeit einer Übung kann nicht exakt bestimmt werden
Schon immer war die Bewertung der Sportgymnastik besonders subjektiv. Grandi sagt: "In der RSG kann die Schwierigkeit einer Übung nicht exakt bestimmt werden, es gibt kein Schwarz und Weiß." Folglich gibt es hier nicht, wie bei den Kunstturnern, eine Note, die den Schwierigkeitsgrad exakt festlegt, sondern nur den sogenannten Referenzwert, der durchaus Schwankungen unterliegt. Diesen Wert zu bestimmen, war Teil des Interkontinentalen Kurses im vergangenen November in Bukarest, wo die weltbesten Juroren für ihren Einsatz im neuen Zyklus und bei den Spielen in Rio 2016 geprüft wurden. Doch als Grandi die Ergebnisse sah, stutzte er. Plötzlich schien es doch Schwarz und Weiß zu geben, denn rund zehn Prozent der Prüflinge hatten die Referenzwerte bei allen Übungen getroffen. Exakt.
Auch in den folgenden Kursen kannten offenbar einige die Antworten vorab: Eine unwahrscheinlich hohe Anzahl traf exakt den Referenzwert, eine noch höhere Anzahl lag nur knapp daneben. Im Dezember wurde dann das Verfahren gegen das Technische Komitee (TK) und 56 Kampfrichterinnen eröffnet. Zum Vergleich betrachtete man die Ergebnisse der vergangenen WM. Dort war bei 480 Übungen der exakte Referenzwert ganze zwei Mal getroffen worden.
Der FIG-Chef erkennt darin Kungelei: "Du bist meine Freundin, ich gebe dir. Und dann die Freunde der Freunde und so weiter." Die Kommission forderte die Prüfungsunterlagen an, doch die waren nie im Lausanner Hauptquartier eingegangen. Sie blieben unauffindbar.