Premier-League-Profi Sintschenko:Sehr viel mehr als nur ein Linksverteidiger

Premier-League-Profi Sintschenko: Ballgewandt, aber auch ein Vorbild für Mentalität: Oleksandr Sintschenko, 26, Linksverteidiger des FC Arsenal.

Ballgewandt, aber auch ein Vorbild für Mentalität: Oleksandr Sintschenko, 26, Linksverteidiger des FC Arsenal.

(Foto: Laurence Griffiths/Getty Images)

Gute Pässe, gewagte Dribblings: Der Ukrainer Oleksandr Sintschenko, einst bei Manchester City entbehrlich, ist beim Tabellenführer FC Arsenal zu einem oftmals unterschätzten Schlüsselspieler gereift. Das beweist er beim 4:0 gegen Everton.

Von Sven Haist, London

Oleksandr Sintschenko zog mit dem Ball am Fuß los, am Mittelkreis. Das Dribbling war gewagt, weil ihn nur zwei Mitspieler des FC Arsenal vor einem möglichen Ballverlust absicherten. Mit einem angetäuschten Rückpass ließ Sintschenko den ersten Gegenspieler vom FC Everton stehen, anschließend umkurvte er einen zweiten und einen dritten. Am Ende seines Antritts befand sich Sintschenko längst nicht mehr auf seiner angestammten Position links hinten, sondern rechts vorne - woraus sich für Arsenal dort eine Überzahl ergab. Für die Zeitung Mail fühlte es sich so an, als hätte man diese Spielszene "durch einen Spiegel" gesehen.

Nach kurzer Ballzirkulation mit zwei Kollegen kam Sintschenko dann erneut an die Kugel, und nach einer Drehung um die eigene Achse zur Orientierung nahm er wieder Tempo auf. Diesmal spielte er jedoch keine Gegner mehr aus, sondern er schob den Ball vor dem Strafraum präzise wie einen Putt beim Golf in die Schnittstelle zu Bukayo Saka. Dieser griff die Vorlage auf und knallte den Ball in der 40. Minute zum 1:0 für Arsenal ins Tor. Damit war der Widerstand der bis dahin hartnäckig verteidigenden Gäste gebrochen. Allerdings hätten Experten das entscheidende Manöver vor dem Führungstor eher einem Offensivkönner zugetraut als Sintschenko.

Der 26 Jahre alte Ukrainer ist bislang einer der meist unterschätzten Spieler bei Premier-League-Tabellenführer Arsenal, das aber dürfte sich nach dem Nachholspiel vom Mittwochabend ändern. Beim 4:0 gegen das abstiegsgefährdete Everton war Sintschenko unter vielen guten Arsenal-Spielern der beste und an drei Toren beteiligt - als Linksverteidiger. Sintschenko gehöre zu denen, die auf dem Rasen "magische Momente" erzeugen könnten, lobte Trainer Mikel Arteta, weil er "die Initiative" ergreife und nicht darauf warte, dass es andere tun. Der Assist zum 1:0 war zwar offiziell erst seine zweite Vorlage dieser Ligasaison. Aber das liegt weniger an Sintschenko als an der Statistik, die nur unmittelbare Torvorbereitungen wertet.

Auch beim 3:0 (71.) von Kapitän Martin Odegaard war der Ukrainer mit einem riskanten Vorstoß durchs Zentrum der Auslöser. Und bei seiner Vor-Vorlage zum 4:0 (80.) durch Gabriel Martinelli, der bereits das 2:0 erzielt hatte, zögerte Sintschenko sein erneut brillantes Zuspiel hinter die Abwehr so lange heraus, bis sich die Mitspieler in Stellung brachten. Aufgrund seiner spielerischen Fähigkeiten sei Sintschenko "unberechenbar" und jederzeit "eine Gefahr" für den Gegner, sagt Arteta. Sintschenko sei innerhalb des Arsenal-Kollektivs "schwer zu bändigen", finden auch die Analysten der Mail.

Durch den Kantersieg festigte Arsenal die Spitzenposition in der Premier League, der Vorsprung auf Manchester City beträgt nun komfortable fünf Punkte. Dass die Gunners in dieser Saison mit dem Dauermeister mithalten können, liegt an ihrer dominanten Spielanlage, die beinahe ein City-Duplikat ist. Bei der Umsetzung nimmt Sintschenko eine Schlüsselrolle ein.

Zum Jahrestag des Kriegsbeginns ist der Ukrainer erstmals Kapitän - mit einer blau-gelben Armbinde

Arsenal löste ihn im Sommer 2022 für 35 Millionen Euro just bei City aus. Dort hatte Trainer Pep Guardiola den ballgewandten Offensivmann über Jahre zu einem Linksverteidiger umgeschult, der bei Ballbesitz zur Verstärkung des Mittelfelds ins Zentrum einrückt. Obwohl nur wenige Profis diesem komplexen Anforderungsprofil gerecht werden, wurde Sintschenko, der auch solide Defensivkompetenz besitzt, in Manchester entbehrlich. Diese Chance nutzte Arteta, denn mit Sintschenko hatte er einst als City-Co-Trainer zusammengearbeitet. Dessen Spielverständnis helfe Arsenal nun, findet Arteta, weil Sintschenko gefühlt schon "200 Mal" gegen mauernde Gegner gespielt habe.

Anders als viele Konkurrenten auf dieser Position verfügt Sintschenko sowohl über ein ausgezeichnetes Passspiel als auch über die Gabe, mit Dribblings selbst in freie Räume vorzustoßen. Dadurch ist Arsenals Aufbauspiel flexibel. Dass er im Nationalteam weiterhin im offensiven Mittelfeld agiert, hilft ihm, um seine Vorstöße richtig einzusetzen und rund um den Strafraum nicht in Hektik zu verfallen. Davon profitierte Arsenal auch gegen das überwiegend destruktive Everton.

Ebenso gut tut Arsenal, dessen Teams jahrelang als zu soft galten, Sintschenkos Mentalität. Diese drückte sich zu Saisonbeginn in seiner damals noch vermessen anmutenden Erwartungshaltung aus, um die Meisterschaft mitzuspielen. Auf dem Platz zeigt er ausgeprägte Einsatzbereitschaft und Emotionalität, an seiner Erfahrung können sich die jungen Spieler bei den Gunners orientieren. Das Sportmagazin The Athletic schrieb kürzlich, Sintschenko sei der Talisman der Ukraine, Guardiolas Liebling - und nun Arsenals Anführer.

Vor einer Woche war Sintschenko sogar erstmals Arsenal-Kapitän. Weil sich an diesem Spieltag der Beginn des russischen Angriffskriegs jährte, entschied die Liga, dass alle Kapitäne zum Zeichen anhaltender Solidarität mit der Ukraine eine Armbinde mit deren blau-gelben Nationalstreifen tragen sollten. Nach Rücksprache mit Arteta gab Arsenals eigentlicher Spielführer Odegaard diese besondere Binde an den Ukrainer Sintschenko ab. Diese schöne Geste bildete der Klub nun auf dem Cover des Stadionhefts zum Match gegen Everton ab.

So wurde auch bildlich dokumentiert, dass Sintschenko für Arsenal sehr viel mehr ist als nur ein Linksverteidiger. Dies bestätigte er dann einmal mehr eindrucksvoll auf dem Spielfeld.

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