Normal ist so ein Lärmpegel bei Turnwettkämpfen nicht. Schon als Simone Biles bei dieser Weltmeisterschaft in Stuttgart erstmals in die Halle kam, wurde es laut. Als der Sprecher ihren Namen nannte, musste man nicht auf die Tribünen schauen - man hörte auch so, dass die Teenager den Ton angaben. Dann legte Simone Biles auf der Bodenmatte los, und es war wie auf einem der Beatles-Konzerte in den Sechzigern: Kreischen nach ihrem neuen Doppelsalto mit Dreifachschraube, Kreischen bei jeder gelungenen Landung.
Kunstturnen ist ein Sport der Selbstbeherrschung, Präzision und Balance. Es wird zwar auch angefeuert und gejubelt, aber in Maßen. Biles ist nun eine Turnerin, die sich und ihrem Sport Neuland erschließt. 22 Jahre ist die Texanerin alt, in Stuttgart hat sie am Dienstag mit dem US-Team ihren 15. WM-Titel errungen. Falls alles normal läuft, kommen bis Sonntag mindestens vier, wenn nicht fünf weitere Goldmedaillen hinzu. Und weil sie zwar schon als 16-Jährige mit dem Gewinnen begann, aber noch genügend Wettkämpfe vor sich hat, wird ihre Titelsammlung sehr lange nicht übertroffen werden, vielleicht nie. Simone Biles ist einer der größten Stars des olympischen Sports, sie strahlt aber noch weit über ihren Sport hinaus.
Eine Athletin, keine Diva
Viele Turn-Königinnen vor ihr wirkten in ihren Glitzerdressen perfekt, aber auch divenhaft. Biles dagegen turnt nicht wie eine Tänzerin, sondern wegen ihrer enormen Sprungkraft und geringen Körpergröße von 1,43 Metern dynamisch wie eine Athletin. Außerdem hat sie eine Kindheitsgeschichte, die vom Leben ganz unten erzählt, was jede Unnahbarkeit bricht. Sie steht ganz oben und trotzdem auf dem Boden - eine Mischung, mit der sich die Fans identifizieren.
Als Biles vier Jahre alt war, nahmen die Großeltern sie zusammen mit der jüngeren Schwester in Obhut und adoptierten sie wenig später. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, ihre Mutter war drogenkrank. Die zwei älteren Brüder kamen zu einer Familie nahe der Heimat im US-Bundesstaat Ohio; Biles wurde in Texas aufgezogen und bezeichnet ihre Großeltern als "Dad and Mom", die ihr Liebe und Vertrauen gaben und ein normales Leben ermöglichten. Und sie ertrugen es auch, dass Biles schon im Kindergartenalter Salti drehte, am liebsten auf dem Wohnzimmersofa, sodass irgendwann nur noch die Anmeldung im Turn-Gym half.
Simone Biles bei der Turn-WM:Sie blendet das Düstere aus
Simone Biles, die beste Turnerin der Geschichte, möchte bei der WM in Stuttgart nicht über die dunklen Seiten ihres Lebens sprechen. Stattdessen reißt sie Witze - und plant unmögliche Sprünge.
Sechs Jahre war sie da alt. Schnell wurde sie besser, so gut, dass sie den Schulunterricht zu Hause mithilfe der Großmutter erledigen durfte, um Zeit fürs Turnen zu gewinnen. Es schien perfekt zu laufen, wie bei allen Athletinnen hinter der Fassade des erfolgreichen US-Turnverbands. In Wirklichkeit aber war auch Simone Biles eines der Opfer von Teamarzt Larry Nassar, der über 15 Jahre hinweg Hunderte von Turnerinnen missbrauchen konnte, auch weil der Verband trotz Indizien nicht einschritt. Bei den US-Meisterschaften im August erhob Biles zum wiederholten Mal schwere Vorwürfe gegen die Funktionäre: "Ihr hattet buchstäblich diesen einen Job, aber ihr habt uns nicht beschützt." Wie so viele der Opfer ist sie entsetzt über die schleppende Aufarbeitung des Skandals. Vom Turn-Sport wendet sie sich aber nicht ab.
Nach den Olympischen Spielen 2016 legte sie eine Pause ein. Als sie zurückkam, turnte sie noch besser. Sie gewann weiter, und wenn einem die Gegnerinnen ausgehen, kann man im Turnen immer noch die Grenzen des eigenen Körpers bezwingen, Übungen meistern, die noch keiner Frau zuvor gelangen. Simone Biles sagt, es mache ihr zunehmend Spaß, Neues zu erproben. Der am Boden gesprungene Triple-Double - ein Doppelsalto gehockt mit Dreifachschraube - trägt nun ihren Namen, auch der doppelt geschraubte Doppelsalto als Abgang vom Schwebebalken heißt jetzt: "Biles". Sie hat ihn in Stuttgart zur internationalen Uraufführung gebracht, begleitet von Kreischen und Schreien.