Historischen Momenten wohnt im Augenblick des Geschehens oft eine erstaunliche Banalität inne. Ihre Tragweite erschließt sich meist erst im Nachhinein. Besonders schwierig wird es, die Bedeutung einzelner Momente zu erfassen, wenn ein Ereignis das nächste jagt. So geschehen am Freitagabend in Nürnberg. Schauplatz war das ins Flutlicht getauchte Max-Morlock-Stadion, auf dessen Rasen sich Dinge abspielten, die in Mittelfranken wohl noch so mancher Enkel zu hören bekommen wird.
Mit 8:3 hat der 1. FC Nürnberg den SSV Jahn Regensburg an diesem 25. Oktober 2024 aus der achteckigen Arena geschossen - so viele Treffer sind dem Club in der zweiten Liga noch nie in eigener Spielstätte gelungen. Überhaupt hat es in der eingleisigen zweiten Liga bislang nur zwei Spiele mit ähnlich vielen Toren gegeben: 1997 gewann der 1. FC Kaiserslautern 7:6 gegen den SV Meppen, 1989 unterlag Fortuna Köln gegen die SG Wattenscheid 5:6.
Und während Regensburgs Kai Pröger angesichts dieser historischen Dimensionen und acht Gegentoren von einem „Skandal“ sprach, stehen die mehr als 30 000 Nürnberger Zeitzeugen vor der Frage, wo sie ihre Geschichte in 30, 40 oder 50 Jahren beginnen sollen: Ganz banal am Anfang des Torreigens, den der zuletzt schon im Frankenderby gegen Fürth groß aufspielende Stefanos Tzimas mit einem gekonnten Schlenzer ins lange Eck besorgte? Oder am Ende, als der Regensburger Louis Breunig einen Distanzschuss von Ondrej Karafiat ins eigene Tor abfälschte und damit für ein Ergebnis sorgte, das es in der 2. Liga noch nie gegeben hat?
Oder sollte man doch lieber in der 74. Minute beginnen, als Julian Justvan einen Foulelfmeter verwandelte? Dagegen spricht, dass so ein Treffer per Strafstoß zu den leichteren Übungen im Leben eines Profifußballers zählt und dass in den Stadien der Republik Woche für Woche Elfer versenkt werden. Dafür spricht hingegen, dass sich Justvan mit seinem Tor zum zwischenzeitlichen 5:3 zum dritten Mal in die Torschützenliste eingetragen hat und damit für eine der vielen kleinen und großen Geschichten gesorgt hat, die sich von diesem irren Fußballabend erzählen lassen. „Es war unglaublich“, sagte Justvan, nachdem er sich als Andenken an das Spektakel von Nürnberg den Spielball gesichert hatte, „so einen Tag hat man nicht oft.“ Für den im Sommer aus Hoffenheim gekommenen 26-Jährigen dürfte also wohl klar sein, wie er in ferner Zukunft seine Erzählung einleiten wird.

Für seinen Trainer Miroslav Klose dürften die Dinge nicht ganz so klar liegen. Denn als Verantwortlicher für die sportlichen Geschicke des Clubs muss der Weltmeister von 2014 das große Ganze im Blick behalten, und da gab es für ihn einiges zu beobachten: Nachdem seine Mannschaft durch den Kunstschuss von Tzimas (17. Minute) und Mahir Emrelis Treffer (23.) 2:0 in Führung gegangen war, gaben die Nürnberger das Spiel auf einmal aus der Hand und sorgten mit ihrer Nachlässigkeit für einen weiteren Moment von bemerkenswerter Dimension: Der Anschlusstreffer durch Eric Hottmann (36.) beendete die 721 Minuten andauernde Regensburger Torflaute. Kurz darauf legte Regensburg sogar nach und kam durch einen Elfmeter von Christian Viet (42.) zum Ausgleich. Klose sah in dieser Phase vieles, mit dem er „nicht einverstanden“ war: das Abwehrverhalten nach langen Bällen etwa, bei dem seine Spieler „viel früher zurücksprinten“ müssen, wie er fand: „Da werden wir ansetzen müssen.“ Für die Versöhnung zwischen Trainer und Mannschaft vor der Pause sorgte dann Justvan, der in der Nachspielzeit zum 3:2-Halbzeitstand traf.

Nürnberg in der 2. Liga:Der griechische Held weckt Erinnerungen
Vier Tore in 275 Minuten: Stefanos Tzimas sorgt beim 1. FC Nürnberg für gute Stimmung. Über einen Mutmacher, der in seiner Spielweise Angelos Charisteas ähnelt – und den sie in seiner Heimat gar nicht ziehen lassen wollten.
Obwohl der plötzlich so treffsichere Jahn danach tatsächlich durch Pröger zum Ausgleich kam (49.), gab es für Klose anschließend keinen Grund mehr für Missmut: Durch einen Doppelschlag von Justvan (59./74.) zerlegte der Club das Regensburger Team endgültig in seine Einzelteile. Lukas Schleimer (80.) und Jens Castrop (83.) erhöhten, ehe Breunigs Eigentor für Ekstase in der Nürnberger Kurve und Entspannung beim zuvor so strengen Klose sorgte. Zwölf Tore haben seine Nürnberger in den vergangenen beiden Spielen erzielt, womit der einstige Stürmer Klose „natürlich sehr zufrieden“ sein konnte. Und nicht nur das: Drei Siege in Serie dürfen durchaus als Indiz dafür gewertet werden, dass Trainer und Team nach Startschwierigkeiten gerade dabei sind zueinanderzufinden.

Von einem Profi war Nürnbergs Trainer besonders angetan: „Ich möchte Julian Justvan herausheben“, sagte Klose, was die historische Bedeutung dieses Abends für selbigen noch einmal unterstreichen dürfte. Immerhin ist sein Coach wie die meisten seiner Kollegen nicht dafür bekannt, einzelne Spieler ins Rampenlicht zu stellen. Klose aber plauderte in den Katakomben des Max-Morlock-Stadions munter drauflos. Ein „fantastisches Spiel“ habe seine Nummer zehn gemacht, erklärte Klose. Und nicht nur das: „Der ist die letzten drei, vier Wochen richtig, richtig gut drauf. Ich bin unheimlich glücklich, dass er sich jetzt endlich mal belohnt hat.“
So könnte Julian Justvan den Bericht an seine Enkel also auch mit der Jubelarie seines Trainers beginnen. Vielleicht wird es auch ein wenig dauern, bis er diesen rasanten Abend in erzählerische Bahnen ordnen kann. Aber anders als im Nürnberger Stadion, in dem die Ereignisse einander überrollten, hat er jetzt ja Zeit.