Siebenkampf:Endlich angekommen

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Aufs Podium vorgedrungen: Carolin Schäfer beim Siebenkampf von London. Ihr nächstes Ziel: der deutsche Rekord von Sabine Braun und damit die 7000-Punkte-Schallmauer. (Foto: Patrick Smith/Getty Images)

Carolin Schäfer gewinnt Silber im Siebenkampf und beschert der deutschen Leichtathletik die erste Medaille bei der WM in London. Für die 25-Jährige ist es der erste große Erfolg bei den Erwachsenen.

Von Joachim Mölter, London

Sein Glück nicht fassen zu können - für die Siebenkämpferin Carolin Schäfer ist das nur noch so ein dahingesagter Spruch. Sie kann ihr Glück ja fassen seit Sonntagabend, es hängt an einem bunten Band, hat die annähernd ovale Form einer Laufbahn, ein Relief voller Leichtathletik-Symbole und ist mit Silber überzogen. "Ich kann das kaum in Worten ausdrücken, was mir diese Medaille bedeutet", sagte sie und hat dann doch versucht, ihre Gefühle zu beschreiben. Als sie geendet hatte, ahnten die Zuhörer, was ihr diese Medaille bedeutet: viel, sehr viel. Aber nicht alles.

Carolin Schäfer ist bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in London Zweite geworden mit 6696 Punkten, hinter der Olympiasiegerin Nafissatou Thiam aus Belgien (6784) und vor der Europameisterin Anouk Vetter aus den Niederlanden (6636). Die drei Frauen, zwischen 22 und 25 Jahre alt, stehen für einen Generationswechsel in ihrer Disziplin. Nur ein paar Stunden bevor sie aufs Siegerpodest hüpften, war die alte Garde von dort heruntergestiegen: Die Titelverteidigerin Jessica Ennis-Hill, 31, aus Großbritannien und ihre ebenfalls zurückgetretene Rivalin Jennifer Oeser, 33, aus Leverkusen waren nachträglich mit Gold und Silber für die WM 2011 dekoriert worden. Im Stadioninneren hat Oeser ihrer Landsfrau Schäfer die just erworbene Medaille dann kurz gezeigt, ehe diese zum abschließenden 800-Meter-Lauf antreten musste. "Das hat mich noch mal gepusht", erzählte Schäfer später, als sie ihre eigene Silbermedaille in den Händen hielt.

"Das kann nur mein nahes Umfeld beurteilen, wie hart die letzten Jahre für mich waren", sagt sie

Es war das erste Edelmetall für den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) bei diesen Titelkämpfen, vor allem war es das erste für Carolin Schäfer bei den Frauen. "Das ist das, wofür ich so lange gearbeitet habe", sagte die einstige Junioren-Welt- und Europameisterin: "Endlich bei den Erwachsenen angekommen zu sein." Dabei hat sie ja schon vor langer Zeit erwachsen werden müssen. "Das kann nur mein nahes Umfeld beurteilen, wie hart die letzten Jahre für mich waren", sagte sie am Sonntagabend.

Die Athletin von der LG Eintracht Frankfurt hat ihre jüngere Lebensgeschichte in London nicht mehr ausbreiten müssen, unter den Leichtathleten ist sie bekannt: dass vor zweieinhalb Jahren ihr Freund tödlich verunglückte, der Bundesliga-Volleyballer Dennis Hefter; dass sie ein paar Monate später bei der WM in Peking dann nicht nur weinte, weil sie im Weitsprung drei Ungültige sammelte und vorzeitig ausschied. "Obwohl das Stadion voll besetzt war, habe ich mich noch nie so einsam gefühlt", sagte sie seinerzeit in die Fernsehkameras.

Am Sonntagabend erzählte sie von ihrer mentalen Stärke als wichtigen Faktor beim Medaillengewinn, die vom "üblichen Auf und Ab im Mehrkampf" herrühre, aber auch von "Ereignissen im normalen Leben, nach denen man sich zurückkämpfen muss". Und jeder ihrer Zuhörer wusste, worauf sie anspielte, als sie dann sagte: "Man muss ein paar Erfahrungen gemacht haben, um zu wissen, was wichtig ist im Leben, und was der Sport bedeutet." Er bedeutet ihr viel. Aber nicht alles. "Was zählt", sagte Schäfer, "ist das, was nach dem Sport passiert."

Nach ihrem fünften Platz bei den Olympischen Spielen von Rio 2016 hat sie sich erst einmal zweieinhalb Monate Auszeit genommen, sie ist gereist, hat sich mit Freunden getroffen, "ein normales Frauen-Leben gelebt", wie sie es ausdrückt. Kurzum: "Ich habe das gemacht, wofür man sonst keine Zeit hat, weil man dem Sport alles unterordnet." Schäfer ergänzte: "Das hat mir sehr, sehr gut getan."

Langfristig will Schäfer den deutschen Rekord von Sabine Braun überbieten

Mit frischen Beinen und freiem Kopf ging sie dann in die Saisonvorbereitung für 2017. Sie und ihr Trainer Jürgen Sammert beschlossen, die Hallensaison auszulassen, "dadurch haben wir Zeit und Ruhe gehabt, um technische Mängel zu beheben", erzählte sie. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, beim Saisoneinstieg Ende Mai in Götzis steigerte sie ihre Bestleistung um rund 300 Punkte auf 6836; dieses Ergebnis bestätigte sie in Ratingen mit 6667 Zählern und nun erneut in London mit 6696. "Ich habe jetzt drei Siebenkämpfe gehabt auf 6700er-Niveau", resümierte sie am Sonntag, darauf lasse sich aufbauen für die Zukunft.

Carolin Schäfer ist jemand, der nach vorne schaut, auf die Heim-EM 2018 in Berlin, "das wird sicher ein Gänsehaut-Moment", glaubt sie: "Das Publikum hinter sich zu haben, ist schon etwas, worauf ich mich freue." Oder auf die Olympischen Spiele 2020 in Tokio: "Ich hoffe, da meinen Leistungshöhepunkt zu haben und ihn nicht schon heute gehabt zu haben", sagte sie. In Tokio wird sie 28 Jahre alt sein, im besten Alter für eine Mehrkämpferin. Und sie sieht noch Reserven bei sich: "Es gibt technische Disziplinen, die einfach noch besser werden müssen, und Trainingsumfänge, die wir noch hochziehen können." Die 6836 Punkte von Götzis haben ihr jedenfalls "eine neue Sphäre eröffnet", sagt sie - zum Beispiel den Ausblick auf den deutschen Rekord von Sabine Braun aus dem Jahr 1992, er steht bei 6985 Punkten. "Das ist realistisch, aber dafür muss vieles zusammenpassen", sagt Carolin Schäfer, "und erst einmal muss ich mich erholen."

Mittelfristig plant sie wieder eine Auszeit wie nach Rio, dieses ganz normale Frauen-Leben, wie sie es nennt. Kurzfristig hatte sie am Sonntag freilich noch etwas anderes im Kopf. Während der Saison ernährt sich Schäfer gluten- und laktosefrei, nicht wegen einer Unverträglichkeit, wie sie versichert, sondern "weil man da ein besseres Körpergefühl hat". Nun aber stand ihr der Sinn nach einer "Pizza oder etwas, was richtig ungesund und fettig ist". Ein kleines Glück sozusagen, dass sie fassen konnte. Man muss das Leben ja auch mal genießen.

© SZ vom 08.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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