Serie zur Leichtathletik-WM, Teil 2:Taifun in Tokio

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Nicht immer gewinnt der Beste: Im epochalen Weitsprung-Duell von 1991 zwischen Mike Powell und Carl Lewis entfaltete sich die Faszination der Leichtathletik.

Joachim Mölter

Am 15. August beginnen die 12. Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin. Es ist das größte Sportereignis auf deutschem Boden in diesem Jahr und der Saisonhöhepunkt eines Sports, der die Extreme bündelt. Die Leichtathletik mit ihren 47 Disziplinen gilt immer noch als der wichtigste Kernsport des olympischen Programms. Kein anderer Sport bringt Sieger aus so vielen verschiedenen Ländern hervor wie sie. Andererseits leidet sie besonders unter den Phänomenen der Moderne wie Kommerzialisierung oder Doping. In einer fünfteiligen Serie erzählen Teilnehmer verschiedener Weltmeisterschaften von der Leichtathletik ihrer Zeit.

(Foto: Foto: Getty)

Es war wieder ein dampfiger Tag gewesen, wie er Ende August häufig vorkommt in Japan, mit Temperaturen jenseits der 30 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von mehr als 90 Prozent. Als die Nacht über Tokio gekrochen kam, klebten den Leuten Hemden und Hosen an der Haut. Im Osten, über dem Pazifik, rieben sich kalte und warme Luft aneinander. Der Wind frischte auf. Es braute sich was zusammen.

Im Olympiastadion von Tokio verteilten Helfer Handzettel mit Verhaltensregeln für den nahenden Taifun Freddy, den 13. der Wirbelwindsaison. Aber die 70.000 Menschen, die in der Arena ausharrten, erwarteten etwas Einzigartiges: Auf dem Programm der Leichtathletik-Weltmeisterschaften stand der Weitsprung der Männer. "Es war eine aufgeladene Stimmung im Stadion", erinnert sich Mike Powell, der an diesem Abend für eine Statistenrolle vorgesehen war, selbst aber andere Pläne hatte: "Die Leute ahnten, dass etwas passieren würde."

In der Leichtathletik geht es ums Gewinnen und darum, Rekorde aufzustellen, und an diesem vorletzten Augustabend des Jahres 1991 kamen beide Faktoren zusammen in einem faszinierenden Wettkampf, in einem Duell auf höchstem Niveau, das nicht nur vom Können entschieden wurde, sondern mehr noch von der Leidenschaft. Es war auch ein Lehrstück über unerfüllte Sehnsüchte und die Unvollkommenheit selbst der Besten.

Niemand rechnete mit Powell

Um dieses Ereignis würdigen zu können, muss man wissen, dass ein Weitsprung-Weltrekord selten vorkommt. Nachdem Jesse Owens, der vierfache Olympiasieger von Berlin, im Jahr 1935 seine 8,13 Meter in den Sand gesetzt hatte, gab es 25 Jahre lang keinen mehr. Und bei Olympia 1968 in Mexiko-Stadt verschob Bob Beamon dank des geringen Luftwiderstands in der Höhe von rund 2200 Metern sowie eines gerade noch zulässigen Rückenwindes von 2,0 Metern pro Sekunde die Marke auf 8,90 - ein "Sprung ins 21. Jahrhundert", wie es hieß. Als die WM 1991 in Tokio begann, war Beamons Rekord jedenfalls der älteste noch bestehende in der Leichtathletik.

Wenn dieser noch im 20. Jahrhundert übertroffen werden sollte, darin waren sich damals die Experten einig, dann allenfalls von Carl Lewis, dem Ausnahmeathleten aus den USA, vierfacher Olympiasieger auch er, 1984 in Los Angeles. Lewis war schon 1983 nahe an Beamon herangekommen mit seinen 8,79; es war den Experten als ein Versprechen erschienen, das er nie erfüllt hatte. Nun war Carl Lewis 30 und in der Form seines Lebens. Fünf Tage zuvor war er Weltrekord gelaufen über 100 Meter - 9,86 Sekunden. Da Schnelligkeit eine Hauptkomponente beim Weitsprung ist, konnte man sich ausrechnen, was kommen könnte.

Alles war also gespannt auf Carl Lewis, auf Carl den Großen, wie er sich in aller Unbescheidenheit nennen ließ. Womit niemand rechnete war Mike Powell, 27 Jahre alt, 1,88 Meter groß, Olympia-Zweiter von Seoul 1988, hinter Lewis. Powell stand immer in Lewis' Schatten, wie so viele andere. 15 Mal war Powell gegen Lewis angetreten im Lauf der Jahre, 15 mal hatte er verloren. "Aber der Abstand ist immer knapper geworden", erzählt Powell. Am Anfang waren es sechzig Zentimeter, dann bloß noch dreißig. Bei den US-Meisterschaften 1991 war es einer. "Da wusste ich, ich bin dran an ihm", sagt Powell, "und beim nächsten Mal werd' ich ihn kriegen." Das nächste Mal, das sollte die WM in Tokio sein.

Im Stadion brodelte es

Powells Ziel dort war: "In erster Linie und vor allem, Carl Lewis zu schlagen." Lewis' Ziel war: Bob Beamon zu schlagen, Weltrekord zu springen. Den Wettbewerb zu gewinnen, nahm er als gegeben hin, schließlich hatte er seit zehn Jahren beim Weitsprung nicht mehr verloren. Er kam mit einer Aura daher, als wäre er Goliaths großer Bruder und alle seine Gegner nur Davids kleinere Geschwister, denen man auch noch die Schleuder abgenommen hatte. "Carl hat mich nicht als jemanden betrachtet, der ihm gefährlich werden konnte", sagt Mike Powell, "aber für mich war er damals eine ganz große Motivationsquelle." Ein Dämon, den es zu bezwingen galt.

Der Wettkampf entwickelte sich zunächst so wie es zu erwarten gewesen war: Carl Lewis legte 8,68 Meter vor, Powell begann mit 7,85. Nach dem dritten Durchgang, dem Vorkampf, hatten sich beide verbessert, Powell auf 8,54, Lewis auf - windbegünstigte - 8,83 Meter. Im Stadion raunte und brodelte es. Nur noch sieben Zentimeter.

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Der vierte Durchgang. Ein weiter, aber ungültiger Versuch von Mike Powell, der vergeblich die Kampfrichter bekniete, den Sprung doch gültig zu geben. Der große Auftritt von Carl Lewis: Er sprang so weit wie nie vorher ein Mensch, 8,91 Meter. Dass ihn ein Wind von 2,9 Meter pro Sekunde so weit blies und damit die Anerkennung als Weltrekord verwehte - egal. Bob Beamon war übertroffen, endlich! Carl der Große forderte die Huldigungen des Publikums, er animierte die Massen zu Begeisterungsstürmen. Er war seiner Sache sicher. "Wenn man ihn so sah", erinnert sich Mike Powell, "hätte man glauben können, der Wettkampf sei entschieden und vorbei. Das hat mich geärgert."

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Als sich Powell zu seinem fünften Versuch bereit machte, war er "emotional aufgeladen", wie sein Trainer Randy Huntington später berichtete. "Ich war zornig", bestätigt Powell, "aber ich habe meine Energie kanalisieren können." In den alten Fernsehaufnahmen sieht man, wie er die Backen aufbläst, man sieht den entschlossenen Blick, die Augen, über die er mal sagte, er habe mit einer Klarheit gesehen wie nie zuvor und nie mehr danach in seinem Leben. "Okay, passt auf Leute", dachte er, "wenn ihr denkt, das war weit, dann passt jetzt mal auf, ich zeig's euch!" Mike Powell senkte den Kopf und machte sich auf den Weg in die Geschichtsbücher.

Als er wieder aus der Sandgrube krabbelte, leuchteten auf den Anzeigetafeln die Zahlen 8,95 und 0,3 auf, die Weite und der Wind - Weltrekord! Im Stadion brach nun ein Taifun los, so sehr entlud sich die Begeisterung der Zuschauer. Aber noch war der Wettkampf nicht vorbei. Lewis' fünfter Versuch: 8,87 Meter, diesmal ohne Rückenwind. Powells sechster und letzter: wieder ungültig. Lewis' letzter: 8,84, abermals ohne Windunterstützung.

Auf Höhe eines Türrahmens

Der große Carl war bezwungen worden, nach 65 Siegen in Serie, und er hatte verlernt, mit Niederlagen umzugehen. Mit versteinertem Gesicht gratulierte er seinem Bezwinger, allenfalls höflich, keinesfalls herzlich. In der Pressekonferenz verwies er auf seine einzigartige Serie mit gleich vier Sprüngen von mehr als 8,80, wo es zuvor ja nur zwei Menschen gelungen war, auch nur einmal weiter zu kommen: Beamon eben sowie unter ähnlichen Höhen- und Windbedingungen dem Russen Robert Emmijan 1987 in einem armenischen Gebirgsort mit 8,86. "Nie hat in der Leichtathletik ein Besiegter auf höherem Niveau verloren", schrieb damals die SZ über Lewis. Der gab erst viel später zu, den Wettkampf von Tokio als "größte Niederlage meiner Karriere" zu empfinden. Über Powells Erfolg mokierte er sich: "Er hat ja nur einen guten Sprung gehabt."

Sie hätten halt verschiedene Ansätze verfolgt, sagt Mike Powell: "Für Carl war jeder Sprung wichtig und großartig. Meine Einstellung war: Ich habe sechs Versuche, um einen guten hinzukriegen." Die technischen Unterschiede zwischen den beiden fanden dann die Biomechaniker heraus, welche die Sprünge analysierten. Auf der einen Seite Lewis, zweifellos der Elegantere, der flacher absprang, dadurch kaum Geschwindigkeit verlor und dann "praktisch an seiner Schwerpunktparabel hinuntergeglitten ist und in einer wirklich idealen Position landen konnte", wie es der Kölner Professor Gert-Peter Brüggemann beschrieb.

Demgegenüber Powell, nicht ganz so schnell, dafür mit mehr Kraftaufwand beim Absprung und einem steileren Abflugwinkel. "Powell hat fast eine Schwerpunkthöhe von 2,20, 2,30 Meter gehabt", sagt Brüggemann, "der wäre so am Türrahmen entlanggeschwebt." Er habe früher Basketball gespielt und sich als Hochspringer versucht, erklärt Powell: "Ich war es gewohnt, auf Höhe zu springen."

"Es gewinnt nicht immer der Beste"

Die 8,95 von Tokio waren im Übrigen kein einmaliger Ausrutscher von ihm. Zu Beginn der Olympia-Saison 1992 kam er in Modesto auf 8,90 Meter - mit zu viel Rückenwind. Außerdem legte er im 2050 Meter hoch gelegenen italienischen Wintersportort Sestriere eine Serie von fünf Sätzen zwischen 8,75 und 8,99 hin - alle mit unzulässiger Windunterstützung. "1992 war im Grunde mein Jahr", sagt Mike Powell, "mein Training war viel besser gelaufen als 1991. Ich hatte das Gefühl, ich könnte 9,20 springen." Aber er verletzte sich, bei Olympia in Barcelona trat er angeschlagen an - und unterlag Lewis doch nur knapp, mit 8,64 zu 8,67 Metern.

"Damals habe ich realisiert, dass nicht immer der Beste gewinnt", erzählt Powell: "Carl hat mich 1992 besiegt, als ich eigentlich viel besser gewesen bin als er. Und wahrscheinlich war er 1991 besser als ich." Der verpasste Olympiasieg nagt an Powell, der 1993 in Lewis' Abwesenheit noch einmal Weltmeister wurde, so wie der verpasste Weltrekord an Lewis nagt. "Jeder von uns hat etwas, was der andere gern gehabt hätte", sagt Powell.

Er hat immerhin bis heute die weitesten gemessenen Sprünge zu Buche stehen, die regulären 8,95 von Tokio und die irregulären 8,99 von Sestriere. Auch wenn die Amerikaner die Weiten in Feet und Inches messen, nicht in Metern und Zentimetern, so wusste er doch, was die neun Meter bedeuten: "Eine magische Marke der Leichtathletik." Noch heute ist Mike Powell davon überzeugt, dass er auch die hätte schaffen können - wenn er verletzungsfrei durch das Jahr 1992 gekommen wäre. "Ich habe damals den Weltrekord in Reichweite für die anderen liegen lassen", findet er.

Der Illusion, dass sein Rekord für die Ewigkeit gemacht sei, gibt sich Mike Powell nicht hin. Etliche Springer hätten das Potential, ihn zu überbieten, derzeit vor allem die Olympiasieger Dwight Philips (USA/2004) und Irving Saladino (Panama/2008). "Es kann schon nächste Woche passieren, man weiß es nie", sagt er. Aber eine Weile würde er den Weltrekord gern noch behalten. Jesse Owens hielt ihn 25 Jahre, Bob Beamon fast 23, zählt Mike Powell auf: "Ich wäre froh, wenn ich mal sagen könnte, ich hatte ihn für zwanzig Jahre."

© SZ vom 18.07.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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