Serie: Wechsel und Wandel (7):Wie ein Puzzle mit 5000 Teilen

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Unterwegs mit viel Gepäck: Manuel Schmid hat schon mal 40 Paar Ski dabei – das richtige Setup ist wichtig.

(Foto: Lionel Bonaventure/AFP)

Im Skisport entscheiden Hundertstelsekunden über Erfolg und Misserfolg - eine große Rolle spielt dabei das Material, an dem akribisch getüftelt wird.

Von Johannes Knuth

Ob ein Sportler den Verein wechselt, das Land, seine Ausrüstung, gleich die ganze Sportart oder einfach nur die Perspektive: Wechsel prägen den Sport, und immer bedeuten sie auch einen Wandel. In dieser Serie erzählt die SZ gewöhnliche und außergewöhnliche Wechselgeschichten.

Ein alpines Skirennen beginnt meist hoch oben, in den Bergen, wo die Lüfte dünn sind und die Nerven der Fahrer angespannt. Ein Skirennen beginnt in Wahrheit allerdings schon Tage zuvor, es beginnt in einer Welt, die vielen verborgen bleibt: tief unten, in Kellern, Garagen oder Kabinen. Die sind selten größer als zehn Quadratmeter und werden von Neonlicht erhellt, was dem Refugium oft den Charme eines Heizungskellers schenkt. Willkommen im Reich der Servicekräfte.

Ihre wichtigste Schicht beginnt oft gegen 18 Uhr, wenn die Athleten im Hotel die Videos ihrer besten Schwünge (oder größten Patzer) vom Tage studieren. Die Servicekräfte tröpfeln derweil Wachs auf die Laufflächen der Ski, drücken es mit einem Bügeleisen fest, schaben es wieder ab und polieren es. So präparieren sie Dutzende Paar, bis tief in die Nacht hinein. Die Fahrer sollen am nächsten Morgen aus einem großen Sortiment wählen, für jedes Wetter, jeden Schnee. Oft stehen die Serviceleute am nächsten Morgen um vier Uhr wieder auf, messen die Temperatur des Schnees, prüfen das Wetter, das in den Bergen schnell wechselt, schleppen die Ski zum Start, wo Fahrer wie Manuel Schmid warten.

"Wir kämpfen um jede Hundertstelsekunde", sagt der junge Deutsche, und es stimmt ja auch: Hundertstelsekunden trennen im Skisport immer öfter zwischen Erfolg und Misserfolg, sie können auf lange Sicht sogar bestimmen, wem ein besserer Sponsorenvertrag zufällt oder zumindest ein günstigerer Startplatz für das nächste Rennen. "Da versuchen wir natürlich, alles rauszuholen beim Material", sagt Schmid, auch wenn ihn die Tüftelei manchmal an ein Puzzle mit 5000 Teilen erinnert. Eines, das selbst die Allerbesten nie ganz lösen.

Manuel Schmid, Heimatverein SC Fischen, ist 25 Jahre alt, Spezialdisziplin Abfahrt. Sein Sport rüttelt kräftig an Knochen und Bändern, Schmid hat schon Verletzungen für mehr als eine Sportlerkarriere gesammelt. Aufgeben, ohne alles probiert zu haben, sah Schmid nie ein. Ob beim Körper oder Material. Im vergangenen Winter wurde er 16. in der Abfahrt von Gröden, entschied sich im Sommer dann für einen gewagten Schritt: Er wechselte den Ausrüster; seine Ski werden jetzt nicht mehr von Head, sondern von Rossignol gestellt. Er sei bei seinem alten Ausrüster "ziemlich glücklich" gewesen, sagt Schmid, aber sein Servicemann, den er sich bis dahin mit seinem Teamkollegen Thomas Dreßen geteilt hatte, hatte sich im Sommer dem neuen Ausrüster angeschlossen. Also zog Schmid mit ihm um, ein bisschen hinein ins Ungewisse.

Die Ski sind dabei nur ein Teil in diesem riesigen Materialpuzzle. Die Kraft des Fahrers fließt über Skischuh, Bindung und Bindungsplatte in den Ski, wenn nur eines dieser Rädchen defekt ist, kann das ganze System ins Stocken geraten. Die Skifahrer nehmen das erste Tuning also schon im Frühling vor, nach den letzten Rennen des alten Winters. Mal probieren sie verschiedene Ski-Modelle, stets mit demselben Schuh. Dann nehmen sie einen Ski, der ihnen gefällt, und testen ihn mit verschiedenen Schuhen, auf härterem, weicherem oder eisigem Schnee. "So hat man irgendwann im Sommer schon mal eine Idee, wohin es mit dem Setup ungefähr gehen könnte", sagt Schmid. Im Sommer üben die Fahrer, in den Trainingslagern in Chile oder Neuseeland. Später nehmen sie bis zu 20 Paar Ski mit in den neuen Winter, pro Disziplin. Bei Schmid, der in der Abfahrt und im kurvigeren Super-G startet, also bis zu 40 Paar. Dazu kommen sieben Paar Schuhe. Wer da am Flughafen hinter einem Skirennfahrer eincheckt, muss Geduld mitbringen.

Das Feintuning erfolgt vor jedem Weltcup aufs Neue. Die Abfahrer absolvieren zwei bis drei Trainingsläufe, dann zwei bis drei Rennen. Nach jedem Lauf bündeln die Betreuer die Eindrücke: Wetter, Schneetemperaturen, die Rückmeldung des Fahrers. Das alles bestimmt, wie der Servicemann am Abend die Ski präpariert, bis tief in die Nacht im Neonlicht.

Da ist der Schuh, den man aggressiver oder weniger aggressiv einstellen kann. Sprich: er steht entweder etwas schräg nach außen oder innen ab. Das bewirkt, dass der Skifahrer sich schwerer oder leichter auf die Kante stellen kann. Da sind die Bindung und jene Platte, die Bindung und Ski verbindet. Die kann man weiter vorne auf den Ski montieren oder ein wenig weiter hinten; der Ski reagiert dann entweder beim Schwungansatz oder beim Schwungende besser. Die Kanten werden von den Servicekräften so scharf wie möglich geschliffen, damit die Ski auf den eisharten Pisten ihren Halt finden (als Stefan Luitz einmal das Pech hatte, nach einem Sturz auf die Kante zu fallen, durchtrennte ihm diese einen Oberschenkelmuskel). Und den Belag, den bearbeitet der Servicemann je nach Wetter, später auch mit kälterem oder wärmeren Wachs, jeden Abend aufs Neue.

Schmid probiert im ersten Training ein erstes Setup, er hat das manchmal tagelang davor ausgetüftelt - in Amerika zum Beispiel, wo die Läufer oft zwei Wochen vor den Rennen anreisen, weil die Schneekristalle anders beschaffen sind als in Europa. Im zweiten Training variiert Schmid eine Einstellung; oder er greift zu einer neuen, weil das Setup vom Vortag nicht passte. Und dann kommt schon das Rennen. Und danach oft ein Dank an die Servicekräfte.

"Das Super-Setup", sagt Schmid, "hat man eh nie von Anfang an." Jedes Rennen ist anders, 30 Fahrer finden im Laufe desselben Rennens oft schon 30 leicht verschiedene Pisten vor, weil es wärmer wird oder kälter, die Unterlage weicher oder griffiger. Die Skirennfahrer müssen sich also ein Reservoir an Erfahrungen aufbauen, sie verdienen sich an jedem Weltcup-Standort ein neues Puzzleteil dazu. Die besten Tüftler, wie der Österreicher Marcel Hirscher, führen eine Datenbank, in der sie jede Einstellung abspeichern, die sie je gefahren sind - so kann sich Hirscher an fast alle Bedingungen anpassen, sogar zwischen zwei Läufen die Ski wechseln, ohne seine kraftvolle Technik ändern zu müssen. "Man lernt als Athlet, man lernt auch als Servicemann", sagt Schmid. "Ich bin da auch noch längst nicht am Ende."

Die Tüftelei werde seit Jahren wichtiger und wichtiger, bestätigt Schmid; man sieht das schon daran, dass ein Ausnahmekönner wie Felix Neureuther sich in Schwierigkeiten verheddert, weil er während seiner Verletzungspausen nicht zum Materialtesten kommt. Andererseits: "Ich würde sagen, dass das Material am Ende maximal zehn Prozent ausmacht", sagt Schmid. "70 Prozent gehen schon an den Kopf." Wobei der Kopf sich auch erst dann wohl fühlt, wenn die Ski so reagieren, wie der Athlet das will, Skirennfahrer sind da sehr feinfühlig. Für Manuel Schmid könnte es in diesem Winter durchaus schlechter laufen, er wurde zuletzt 20. in Gröden, 21. in Bormio, 18. am Samstag in Wengen, damit war er sogar der beste deutsche Starter. Kommendes Wochenende wird Schmid bei der prestigeträchtigen Abfahrt in Kitzbühel am Start stehen, es ist die ultimative Prüfung im Weltcup. Dann wird er wieder versuchen zu vollenden, was Tage zuvor in einer Kammer im Neonlicht seinen Anfang nahm.

Bisher erschienen Beiträge über Multitalent Benedikt Huß (27. 12.), 1860-Stadionsprecher Stefan Schneider (29.12.) Fußballer Burhan Bahadir (2.1.), Journalist Tobias Barnerssoi (3.1.), Hockey-Trainer Norbert Wolff (9.1.) und Fußball-Bezirksligist Türkspor Nürnberg (16.1.).

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