Serie Olympiadörfer Teil 7:Die Wahrheit der Woche

Kiel hat eine weltberühmte Regatta, Schiffe und die Schönheit des Wassers - Segeln zählt hier mehr, als es das bei Olympia je könnte.

Von Christian Zaschke

Es gab mal einen Oberbürgermeister in Kiel, Otto Kelling hieß er, und er amtierte von 1992 bis 1996. Eines Tages kam es Otto Kelling in den Sinn, die Kieler Woche zu privatisieren, und also setzte er sich an den langen Holztisch im Konferenzzimmer des Kieler Yacht-Clubs (KYC) und trug seine Idee vor.

Der Vorstand des ehrwürdigen Vereins war versammelt und schaute den Bürgermeister schweigend an. An den Wänden: Bilder von Schiffen. Auf den ledergepolsterten Stühlen: Männer, die Schiffe segeln, die Schiffe verwalten und die vor allen Dingen helfen, die Kieler Woche zu organisieren, die größte Regattawoche der Welt.

"Na, dann hätten Sie mehr Zeit", versuchte es Kelling. Die Männer auf den ledergepolsterten Stühlen sahen Kelling unverwandt an. Die Bilder von Schiffen hingen mächtig an den Wänden. Kelling bemerkte, dass etwas schief lief, er wusste noch nicht was. Die Männer schauten. "Das war die größte moralische Ohrfeige, die ich je erlebt habe", sagt Dieter Rümmeli, seit 1985 Organisationsleiter der Regatten, "ich dachte: Der ist weg."

Rümmeli sitzt in eben jenem Konferenzzimmer, als er die Geschichte erzählt, er lässt sie sich auf der Zunge zergehen, und als er bei Kellings Satz ankommt, dass die Männer vom Yacht-Club dann ja mehr Zeit hätten, lächelt er wie ein Mann, der gerade die Bäckchen einer Meerforelle verspeist. Er weiß, welches Bild die Geschichte transportiert: Das vom Segelsport, der gottgleich über den Wassern schwebt, und das vom Kieler Yacht-Club, dem Stellvertreter des Segelsports an Land.

Otto Kelling wurde später abgewählt und ging nach Iserlohn zurück, wo er hergekommen war, und nach allem, was bis heute bekannt ist, haben die Segler damit nicht das Geringste zu tun. Aber wer weiß?

Das Wasser teilt die Stadt Kiel in zwei Hälften, ins Westufer und ins Ostufer. Wie ein Keil schiebt sich die Förde erst an der Steilküste vorbei, an Stränden, dann am Leuchtturm Friedrichsort, der zum Lieblingsmotiv der Tatort-Filmer geworden ist, die jetzt manchmal in der Stadt einen Krimi drehen, weiter, vorbei am Nord-Ostsee-Kanal, am Landeshaus, später vorbei am Kieler Yacht-Club, bis die Förde in einem Becken endet, das die Kieler Hörn nennen. Das Wasser ist mitten in der Stadt, und vom Wasser aus betrachtet ist Kiel sehr schön.

Aber wenn man das Boot verlässt und in die Stadt spaziert, dann stehen da Gebäude, ein braunes Ungetüm, in dem eine Versicherung wohnt, ein Kaufhaus mit grauer Fassade, hässliche Arkaden aus Metall und Glas ziehen sich entlang einer Hauptstraße.

Hässliche Stadt gegen herrliche See

An manchen Stellen wirkt die Stadt wie ein Gegenentwurf zur Schönheit des Wassers, wie die städteplanerische Vision von Balance, die hässliche Stadt gegen die herrliche See. Doch es ist so, dass Kiel Reichskriegshafen war und als solcher zerbombt wurde, und beim Aufbau nach dem Krieg haben sie nicht Frank Lloyd Wright gefragt, sondern die Architekten, die gerade da waren. Geld gab's eh nicht, und deshalb sieht Kiel heute so aus, wie es aussieht. Klar, dass man da aufs Wasser schaut.

Peter Bedei macht das den ganzen Tag. Er hat seinen weißen Laster draußen in Kiel-Schilksee geparkt, im Olympia-Hafen von 1972. Niemand darf seinen Laster im Hafen parken, außer Peter Bedei, das hat sich so ergeben. Der weiße Laster hat einen Stammplatz auf dem Hafenvorfeld, es ist der vielleicht schönste Platz der Stadt. Nach rechts blickt Peter Bedei auf den Strand, auf dem im Sommer ziemlich viele junge Menschen zu sehen sind, die in der Sonne liegen.

Nach links blickt Bedei auf die Stege, auf denen im Sommer ziemlich viele junge Menschen zu sehen sind, die sich in Segelmonturen gequetscht haben und sich anschicken, hinauszusegeln auf die Förde und weiter aufs offene Meer. Peter Bedei ist jetzt 68 Jahre alt, und einen besseren Platz, um die Tage des Ruhestands zu genießen, hätte er nicht finden können.

Von 1991 bis 2000 war er Bundestrainer der Tornado-Segler. Der Tornado ist ein sehr schnelles Zweirumpfboot, Roland Gäbler hat darauf bei Olympia 2000 Bronze gewonnen. Trainiert hat er in Kiel, so wie Amelie Lux in Kiel trainiert, Silber 2000 im Surfen, oder Marcus Baur, Olympiafavorit im 49er. Bedei kennt jeden Leistungssegler, der die Förde zum Training nutzt, und die Segler kennen Bedei. Was nicht zuletzt an dem weißen Laster liegt.

Der Laster hat auf der rechten Seite eine Tür, und wenn man sie öffnet, blickt man in die Kajüte eines Schiffs. "Erst wollte ich natürlich ein richtiges Schiff haben", sagt er, "aber is' ja viel zu teuer." Also hat Peter Bedei nachgedacht, und als er fertig gedacht hatte, kaufte er sich 1988 den Laster, schnitt erstmal ein paar Fenster rein und baute ihn aus, bis er innen so aussah wie ein Schiff.

Nun konnte er zwar nicht gemütlich die Förde entlangsegeln und von dort rüber zu den Weltmeeren, aber sein Schiff hatte den Vorteil, dass es vorne ein bequemes Führerhaus hatte und unten drunter vier Reifen, so dass er auf die A7 fahren konnte und von dort in die Welt. Und das Beste ist, findet Peter Bedei: "Der Laster hält, bis ich in die Kiste springe."

Der Laster ist ein Treffpunkt bei Regatten. Wenn in Europa gesegelt wurde, hat Bedei den Wagen hingefahren, nach Spanien, nach Portugal, und einmal auch nach Athen, aber da fährt Bedei nie mehr hin. "Ich hatte einen Hänger hintendran und oben auf dem Dach die ganzen Masten, die vorstanden.

Wenn du in Athen zum Hafen willst, musst du durch die ganze Stadt, winzige Gassen sind das." Als er endlich im Hafen in Piräus angekommen war, hingen die Masten voll mit Unterwäsche, die er von den Balkonen in den engen Gassen abgeräumt hatte. Auf den Stress hat er keine Lust mehr.

Ein "richtiges Bier anfassen"

Er sitzt lieber vor seiner Kajüte, im Sommer baut er einen Tisch auf, einen Sonnenschirm und Stühle, und dann kommen Segler vorbei, und "dann wird auch schon mal ein richtiges Bier angefasst". Das ist ein ziemlich schöner Ausdruck, "richtiges Bier anfassen", und er ist eine Art Gegenentwurf zur Geschichte vom Oberbürgermeister und der unheimlichen Macht des Segelns.

Für Peter Bedei ist Segeln nicht nur Leistungssport, sondern zugleich und gleichberechtigt Geselligkeit, er kann viele Geschichten aus seiner Bundestrainer-Zeit erzählen, zu deren Bilanz vier WM-Titel gehören, acht EM-Titel und nie gezählte richtig angefasste Biere. Zur Kieler Woche fährt er den Laster immer ein paar Meter weiter zum Lager der Tornados.

In der Innenstadt tobt ein riesiges Volksfest, und hier draußen, in Kiel-Schilksee, kommt man bei Peter Bedei vorbei und redet ein paar Worte. Er ist eines der heimlichen Zentren dieser Woche, zu der in diesem Jahr 3,5 Millionen Besucher erwartet werden, sowie knapp 6000 Segler und 2300 Schiffe aus 50 Nationen.

Sämtliche Segler, die bei Olympia in Athen starten, werden kommen, dazu die Unterlegenen der nationalen Ausscheidungen, so dass es in diesem Jahr schwieriger ist, in Kiel zu gewinnen als in Athen. "Hier muss man gesegelt haben", sagt Bedei, "egal, wo auf dem Erdball man wohnt." Obwohl das Nationale Olympische Komitee Rostock als Segelrevier für die deutsche Olympiabewerbung ausgewählt hat, ist Kiel noch immer die Hauptstadt des deutschen Segelns.

Das ist seit über 100 Jahren so. 1882 segelten erstmals Hamburger Kaufleute, die Häuser an der Kieler Förde besaßen, mit den Schiffsbauern der Werften im Reichskriegshafen Kiel um die Wette. Daraus entstand die Kieler Woche. 1887 gründeten Offiziere und Beamte der Kaiserlichen Marine den "Marine-Regatta-Verein".

Nun hatten sie in Kiel einen prima Yacht-Club, aber in der Satzung stand, dass nur Militärs Mitglied sein können, also kam nicht genug Geld in die Kassen. 1891 beschloss man, auch "Herren vom Zivil" aufzunehmen und bat Kaiser Wilhelm, den Klub umbenennen zu dürfen, in Kaiserlicher Yacht-Club. Ihre Majestät genehmigte und nahm im Klub den Titel eines "Kommodores" an.

Dieser Ehrentitel begleitet den Klub bis in die Gegenwart. Zweimal noch wurde er verliehen, nachdem der Kaiser gestorben war, zuletzt an Otto Schlenzka im Jahr 1983. Schlenzka trägt den Titel bis heute, er ist 85 Jahre alt, auch er empfängt in jenem Konferenzzimmer des Yacht-Clubs. Durch ein Fenster ist der Olympia-Hafen von 1936 zu sehen. Schlenzka erinnert sich, dass er damals bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Segelwettbewerbe die Fahne von Japan getragen hat.

Er erinnert sich an ein ganzes Leben im Kieler Yacht-Club, in den er 1933 eingetreten ist, vor 71 Jahren. Er erinnert sich, dass er die Olympischen Segelwettbewerbe 1972 vorbereitet und geleitet hat. Er erzählt eine lange Geschichte, über eine Stunde redet er, ohne dass es eine Zwischenfrage gibt, es ist die ganze Geschichte des Segelns in Kiel, in welcher Otto Kelling keine Rolle spielt und richtiges Bier auch nicht, in der stattdessen eine Melodie sich entwickelt, deren Leitmotiv die Tradition ist.

Diese Tradition ist die Stärke Kiels im Segelsport, und sie ist vielleicht auch eine Schwäche geworden, da sich Kieler aufgrund ihrer langen Geschichte für unanfechtbar hielten. Als Rostock den Zuschlag als Segelstadt in der deutschen Olympiabewerbung erhielt, war das für die Kieler nichts anderes als Majestätsbeleidigung. Rostock. Wo doch schon der Kaiser vor Kiel gesegelt ist, 1891 auf der "Meteor".

Kürzlich hat Otto Schlenzka einen Empfang im Kieler Yacht-Club gegeben, anlässlich seines 85. Geburtstages. Die gesamte Kieler Prominenz hat ihre Aufwartung gemacht, Schlenzka ist ein Denkmal des Segelns in Kiel. Peter Bedei hat auch mal vorbeigeschaut. Ist sonst nicht so seine Welt, Empfänge, das Steife, und überall Menschen und keinen freien Blick auf den Himmel.

Er kramt ein wenig in seiner Kajüte herum, und dann findet er eine Karte, auf die Schlenzka eine Danksagung geschrieben hat. Geschwungene Schrift, wie Wellen. Bedei hat die Tür seiner Kajüte geöffnet, es geht ein leichter Wind. Gutes Segelwetter. Wenn unter seiner Kajüte nicht Räder wären, sondern ein Kiel, dann würde er jetzt Segel setzen und hinaussegeln auf die Förde und von dort weiter aufs offene Meer.

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