Süddeutsche Zeitung

Serie: Die Loyalen (III):Weit weg von den Schüssen im Wald

Der Trainer Mersad Selimbegovic ist seit 13 Jahren beim Zweitligisten SSV Jahn Regensburg. Der Verein half ihm dabei, seine Vergangenheit als Flüchtling im Bosnienkrieg zu verarbeiten.

Von Johannes Kirchmeier

Wechsel sind fester Bestandteil des Sports. Sie finden inzwischen in vielen Sparten in immer kürzeren Abständen statt und sind mit immer höheren Geldsummen verbunden. Aber es gibt eben auch diejenigen, die in der Beständigkeit Abwechslung und Spannung - vielleicht sogar eine Heimat - finden. In dieser Serie erzählt die SZ von ungewöhnlich lange andauernden Beziehungen zwischen Mensch und Verein.

Der Tod begegnet Mersad Selimbegovic fast nur noch in Momenten der Ruhe. Beim Spazierengehen etwa, wenn der Regensburger Fußball-Trainer mit seinem Nachbarn, einem Arzt, spricht. Dann erzählt der von seiner Arbeit auf einer Palliativstation; davon, dass er Menschen behandelt, die alles dafür geben würden, um nur noch einen Tag zu leben. Bloß geht das leider nicht mehr. "Am Ende ist alles wurscht, was du hast", sagt Selimbegovic. Er sitzt an einem sonnigen Dezembermorgen in einer Loge der Fußballarena des Zweitligisten SSV Jahn Regensburg. "Am Ende kommt es darauf an, ob du ein guter Mensch warst oder nicht. Und ob du etwas hinterlassen hast, was der Gemeinschaft helfen kann." Der 37-Jährige kann mit den Patienten mitfühlen. Der Tod begleitete ihn vor knapp drei Jahrzehnten selbst. In jeder Sekunde seines noch jungen Lebens.

Selimbegovic ist wohl der unbekannteste Trainer aus den ersten beiden Profiligen Deutschlands, doch er hat eine der bewegendsten Lebensgeschichten: Er stammt aus Bosnien-Herzegowina, ist mitten in den Jugoslawienkriegen aufgewachsen. Als Zehnjähriger musste er zum ersten Mal seine Sachen packen und aus dem Heimatort nahe der Kleinstadt Rogatica fliehen. "Ich habe damals nicht gleich verstanden, dass ich meine Heimat verliere. Mir war vor allem nicht klar, was ich jemandem angetan habe, dass ich jetzt wegrennen muss", sagt er. "Was treibt Leute an, den anderen wehzutun?"

Im Jahr 1992 flüchtete er gemeinsam mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder. Bis zum Ende des Bosnienkrieges 1995 waren die vier heimatlos, etwa 100 000 Menschen kamen in dieser Zeit ums Leben, Tausende weitere werden immer noch vermisst. "Wenn du als Zehnjähriger durch den Wald läufst und hörst und siehst, dass Leute hinter dir herrennen und schießen, dann bist du ganz schnell Teil eines Films. Ich habe mir gedacht, das kann doch nicht wahr sein, nie im Leben."

Aber die Schüsse hörten nicht auf: "Irgendwann denkst du gar nicht mehr nach, sondern bist nur noch in einem Modus: 'Ich will überleben.'"

Der Krieg wirkt sehr weit entfernt in der Loge eines Fußballstadions, im Alltag eines Fußballtrainers. Selimbegovic lebt seit 13 Jahren in Regensburg. Seine bosnische Herkunft hört man ihm noch an, doch es hat sich auch ein wenig Dialekt in sein Hochdeutsch gemischt. Er erzählt langsam von der Vergangenheit.

Wie schwer Menschen, die im Frieden Deutschlands aufgewachsen sind, seine Flucht nachvollziehen können, merkt er an seinen beiden Söhnen, zwölf und acht Jahre alt, und ihren Freunden. Er lächelt, als er sagt: "Ich bekomme mit, dass Kinder, auch meine eigenen, zum Beispiel Probleme damit haben, die wenigen Meter zum Bäcker alleine zu gehen. Und ich bin mit zehn drei, vier Stunden durch die Wälder gelaufen und habe mir Essen gesucht."

Mit einem Flüchtlingskonvoi begab sich die Familie 1992 auf den Weg über gegnerische Territorien in Richtung Sarajevo. "Wir haben gesehen, dass es mit dem Essen und allem anderen irgendwann so knapp wird, dass sich die Leute wahrscheinlich untereinander zu fressen beginnen." Er kämpft mit den Tränen und stockt etwas. Vom Vater musste sich die Familie nach der Aufnahme in den Konvoi trennen, Männer durften nicht mit.

"Ich musste schnell erwachsen werden. Du hast keine Zeit, einfach durchzuschnaufen. Hauptsache, es schießt keiner auf dich. Und deine Familie und deine Freunde haben etwas zu essen."

Manchmal bedeutete das, Ohrfeigen in Kauf zu nehmen, wenn er die Hilfspakete, die aus den Flugzeugen geworfen wurden, gesammelt, besser gesagt: geklaut hatte. "Erwachsene wurden dafür verhaftet, Kinder ließen sie nach einer Watschn laufen. Ich habe mir ein Paket geschnappt und war die ganze Nacht unterwegs."

Das waren die guten Tage. Er musste es aber auch mal drei Tage ohne Wasser, eine Zeit lang ohne Brot aushalten. Im Winter, sagt er, habe er am Wegesrand andere Flüchtlinge sitzen gesehen. "Die wollten sich nur kurz ausruhen. Aber da kann man sich vorstellen, was passiert." Es war ihre letzte Pause.

Als die Familie 1993 im Süden des Landes wieder mit dem Vater zusammenfand, weinte Selimbegovic vor Freude, zwei Stunden lang, sagt er. "Viele wissen immer noch nicht, wie ihr Vater damals war, weil einige Väter leider nie mehr zurückgekommen sind. Bei allem, was ich erlebt habe, kann ich trotzdem sagen: Ich habe so viel Glück gehabt." Nach dem Krieg baute die Familie ein Haus in der Hauptstadt Sarajevo, Selimbegovic begann mit dem Fußballspielen, wurde Profi - und kam 2006 nach Regensburg. Er folgte seiner Frau Aldiana, die in Passau lebte und ihn beim Urlaub im Heimatort ihrer Eltern in Bosnien-Herzegowina kennengelernt hatte.

So begann die zweite große Geschichte in Selimbegovics Leben. Dass der lange Heimatlose gerade im unsteten Profifußball den Ort fand, an dem er nun am längsten lebt. 13 Jahre beim selben Klub, das klingt immer noch surreal. "Ich glaube nicht, dass das jeder gleich nachvollziehen kann. Aber ich war mit fast 25 Jahren schon müde vom Hin und Her. Irgendwann brauchst du eine Basis." Für ihn ist das Regensburg: "Die Kinder gehen hier zur Schule, wir haben ein Haus, und die Nachbarschaft passt. Das ist das, was ich lange vermisst habe, diese Basis."

Selimbegovics Stationen

Als Trainer

2012 - 2016 SSV Jahn Regensburg II (Co-Trainer)

2016 - 2017 SSV Jahn Regensburg U19

2017 - 2019 SSV Jahn Regensburg (Co-Trainer)

seit 2019 SSV Jahn Regensburg

Als Spieler

2004 - 2005 NK Žepče

2005 - 2006 FK Željezničar Sarajevo

2006 - 2012 SSV Jahn Regensburg

Beim SSV Jahn hat er so ziemlich alles gemacht, was man im Fußball tun kann. Erst spielte er als eisenharter Verteidiger. In der vierten Liga startete er, zum Karriereende 2012 stieg sein Team mit dem Trainer Markus Weinzierl in die zweite Liga auf. Danach wurde er Co-Trainer der U 23 und begann parallel eine Ausbildung zum Industriemechaniker. Später coachte er die U 19, entwickelte mit dem Geschäftsführer Christian Keller ein taktisches Spielkonzept für den gesamten Verein, wurde Nachwuchskoordinator und schließlich zwei Jahre lang Co-Trainer von Achim Beierlorzer bei den Profis.

"Ich liebe es, etwas vom Fundament her zu entwickeln. Das passt halt auch zu diesem Verein", sagt er und fügt an: "Der Fußball hat mir brutal geholfen, dass ich die Kriegszeiten schneller verarbeitet habe als viele andere." Als Beierlorzer im Sommer nach Köln wechselte, übernahm der Mann den Cheftrainerposten, der den Klub so gut kennt wie niemand anders.

Vielleicht will er einmal ein Buch über sein Leben schreiben, er überlegt auch, eine Stiftung zu gründen. Mit einer Organisation hilft er bereits Rückkehrern in Bosnien-Herzegowina. "Der Krieg mit Waffen ist zwar zu Ende, aber er ist immer noch da." Der Ort, aus dem seine Eltern stammen, hat beispielsweise erst seit wenigen Monaten wieder Strom.

Bosnien werde immer seine Heimat bleiben, sagt Selimbegovic. Immer mal wieder kehrt er an den Ort seiner Kindheit zurück, seine Familie hat dort ein Urlaubshäuschen. "Wenn ich dort bin, merke ich: Ich fühle mich irgendwie anders." Entweder liege das an der Ruhe im Grünen oder an den Erinnerungen, meint er. "Aber da sind auch noch Menschen, von denen ich nicht sicher bin, ob sie mich nicht damals auch gejagt haben. Nach zwei Tagen kommt das irgendwie hoch. Da sagst du dir: 'Was, wenn es jetzt wieder passiert?'"

Eine konkrete Gefahr gebe es zwar nicht, aber der Tod ist Mersad Selimbegovic in so einem Moment trotzdem wieder nah. "Dann schaue ich auf meine Jungs, und sage mir: Ich will nicht, dass die durch den Wald rennen so wie ich." Dann, findet er, ist es Zeit, nach Regensburg zurückzukehren.

Bisher erschienen: Michael Spatz vom TV Großwallstadt (30.12.), Regine Grübel vom TSV 1860 München (03.01.).

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Quelle:
SZ vom 04.01.2020
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