Juventus Turin:Die Hegemonialmacht schlägt zurück

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Juventus Turin jubelt über den Sieg gegen Mailand. (Foto: Ulmer/Imago)

Der Dauermeister gewinnt gegen Tabellenführer AC Mailand und verhindert ein frühzeitiges Aus im Titelkampf. Ronaldo bleibt blass - andere nehmen mittlerweile seine Rolle ein.

Von Thomas Hürner

Fußballstadien sind in diesen Zeiten leere Hülsen, biedere Zeugnisse der Einsamkeit. Für kein Stadion gilt das so sehr wie für das San Siro in Mailand, das vor fast einem Jahrhundert erbaut wurde und heute Platz bietet für 80 000 Menschen. An besonderen Tagen wird hier die große Fußballoper vorgeführt, auf den Rängen ein brodelndes Inferno, die ganze Magie des Spiels.

Am Mittwochabend war natürlich alles betrüblicher als sonst, auf dem Platz ging es trotzdem richtig zur Sache. AC Mailand gegen Juventus, 16. Spieltag, mehr Titel können sich im Calcio nicht versammeln. In diesem Duell treffen die beiden Großklubs aus dem Norden Italiens aufeinander, die ein Gelöbnis auf die Urtugenden des Sports abgelegt haben: Gewinnen um jeden Preis. Diese Gier hat schon viele justitiable Geschichten hervorgebracht, doch das gilt als Vergangenheit, verstaut in den Aktenschränken der italienischen Behörden.

Die Geschichte dieses Spiels schrieb ein junger Angreifer, der einen sehr geläufigen Nachnamen im katholischen Italien trägt: Chiesa, was übersetzt Kirche bedeutet. Sein Rufname lautet "Fede", wie der Glaube. Am Tag des Dreikönigsfests steuerte also Federico Chiesa, 23, zwei Tore zum 3:1-Sieg seiner Juve bei, auch ansonsten war der Angreifer die herausragende Figur. Seine Leistung war ein passabler Anlass für die religiösen Wortspiele, zu denen sich die drei Fußball-Tageszeitungen des Landes gerne verleiten lassen, und das Juve-Hausblatt Tuttosport ergriff die Chance: "Juve, Fede nello Scudetto", titelte das Turiner Blatt, wobei der Meisterpott als jener Tricolore-Aufnäher abgebildet war, wie ihn die Juve seit nun zehn Jahren auf der Brust trägt: Das Symbol für den aktuellen Titelträger ist das Symbol der Turiner Dauerregentschaft.

Um nicht weniger ging es am Mittwoch. Der Tabellenführer Milan hätte eine Vorentscheidung im Kampf um den Meistertitel herbeiführen können, denn die Hegemonialmacht Juve schwächelt in dieser Saison. Bei einer Niederlage hätte der Rückstand auf die Spitze erschreckende 13 Punkte betragen. Jetzt sind es nur sieben, weil auch Verfolger Inter Mailand bei Sampdoria Genua patzte (1:2), alles scheint wieder offen zu sein. Vor allem für den neuen Juve-Coach Andrea Pirlo, der als Spielmacher Weltgeltung erlangte, bedeutet dieser Triumph ein kleines, individuelles Erweckungserlebnis.

Ibrahimovic fällt verletzt aus

Als echter Gradmesser kann dieses Spiel trotzdem nicht gelten. Milan hatte sieben Absenzen zu verkraften, darunter der eigentlich unverwüstliche Zlatan Ibrahimovic, bei ihm zwickt seit geraumer Zeit die Wade. Nur sechs Spiele hat der Stürmer in dieser Saison bestritten, doch er hat beim in den vergangenen Jahren kriselnden Milan etwas hinterlegt, was fast genauso wichtig ist wie seine Extraklasse: Selbstbewusstsein, Mentalität, ein Urvertrauen in die eigene, große Geschichte. Milan hatte bis Mittwochabend saisonübergreifend seit 27 Spielen nicht verloren.

Entsprechend heiß ging es her, blass blieb eigentlich nur Juves Hauptattraktion Cristiano Ronaldo. Doch das war zu verschmerzen, denn im Kader der alten Dame finden sich weitere Fußballer von fulminanter Qualität. Der Stürmer Paolo Dybala etwa, der die ersten beiden Tore vorbereitete, eines davon mit einem zauberhaften Hackentrick. Und eben Chiesa, der diese beiden Angriffe vollendete, einmal mit rechts und einmal mit links. Er sagte hinterher, dass er von Ronaldo lerne, täglich gucke er sich dessen Bewegungen und Laufwege ab. Das scheint zu fruchten, nach einem holprigen Saisonstart scheint sich Chiesa in Turin nachhaltig assimiliert zu haben.

Auch der Ex-Schalker McKennie trifft

Bei Chiesa ist von entscheidender Bedeutung, wo er sozialisiert wurde, ehe er zu Beginn der Saison für rund 50 Millionen Euro in den Piemont transferiert wurde: Der 23-Jährige ist ein Eigengewächs der Fiorentina, und das Verhältnis der Toskaner zum Rekordmeister Juve ist mit "schwierig" nur unzureichend beschrieben. 1990 ging der große Roberto Baggio denselben Weg, der Hass prasselte nur so auf ihn ein, vergeben wurde ihm dieser Wechsel von den Tifosi nie.

Chiesa war in Florenz der jüngste Kapitän der Geschichte, es war ein Vertrauensvorschuss. Als sich die Wechselgerüchte zur Juve verdichteten, sollte er eine ganz spezielle Schleife tragen, ein Erinnerungsschleifchen an den viel zu früh verstorbenen Capitano Davide Astori. Das Andenken an den Verteidiger, der 2018 im Mannschaftshotel einschlief und nicht mehr aufwachte, ist den Fiorentina-Fans heilig. Und Chiesa, so deren Auffassung, war nun ein Dissident, ein Verräter. Die Viola-Anhänger liefen Sturm, in Heerscharen belagerten sie später auch den Medizincheck, den Chiesa in Coverciano zu absolvieren hatte, dem in Florenz gelegenen Trainingszentrum der Nationalmannschaft.

Nun ist der Angreifer ein anerkannter Teil im Ensemble von Trainer Pirlo, ebenso wie der frühere Schalker Weston McKennie, der wie Chiesa im Herbst in Turin anheuerte und am Mittwoch als Einwechselspieler den dritten Treffer erzielte. Pirlo glänzte einst selbst im Milan-Trikot, ehe er zur Juve ging und sein Andenken weiterführte. Abneigung wurde ihm dafür nie zuteil, sein notorisches Titelsammeln konnte ihm niemand ernsthaft vorwerfen. Dem Spieler Pirlo wurde jeder Farbenwechsel verziehen. Fraglich ist, ob man dem Trainer Pirlo eine Saison ohne Trophäen verzeihen würde.

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