Spitznamen, mehrere sogar, haben sie in Neapel schon gefunden für ihren Schotten, der auf den ersten Blick so untypisch erscheint. Großen Künstlern des Fußballs brachte man in Süditalien immer viel Liebe entgegen, das war nicht nur bei Diego Maradona der Fall, sondern auch bei Lorenzo Insigne, Edinson Cavani, zuletzt bei Khvicha Kvaratskhelia, bevor er sich unrühmlich nach Paris verabschiedete. Dass sich inzwischen ein groß gewachsener, durchwegs britischer Mittelfeldarbeiter namens Scott McTominay des Rufnamens nicht erwehren kann, ist hingegen eher ungewöhnlich: McDominay nennen sie ihn, McGyver, McTerminator, den Premierminister oder auch den Flaschenöffner, weil er so häufig das erste Tor erzielt.
Sein persönlicher Favorit, sagte McTominay am Sonntag, stamme von seinem neapolitanischen Mitspieler Pasquale Mazzocchi, der ihn McFratm nennt, im lokalen Dialekt. Fratm, das ist in Kurzform eine besondere Würdigung in Neapel: fratello mio, mein Bruder. Und als Teil der Familie haben sie McTominay bei der SSC längst anerkannt. Nicht erst, seit er sie am Sonntag zum Favoriten auf die Meisterschaft machte.
Zwei Tore erzielte McTominay gegen den FC Turin. Es war der 22. und vielleicht vorentscheidende Saisonsieg für Napoli, weil zuvor am Nachmittag der aktuelle Meister Inter Mailand überraschend im heimischen San Siro gegen die AS Rom verloren hatte. Drei Punkte Vorsprung hat die Mannschaft von Trainer Antonio Conte nun, bei noch vier ausstehenden Partien, allesamt gegen Gegner aus der unteren Tabellenhälfte: Lecce, Genua, Parma, Cagliari, so lautet für die Neapolitaner der machbare Weg zum zweiten Scudetto in drei Jahren – den sie in wesentlichen Teilen einem Spieler verdanken würden, der fast nicht gekommen wäre.
Eigentlich wollte man in Neapel im vergangenen Sommer einen jungen Mittelfeldspieler namens Marco Brescianini aus Frosinone verpflichten, der auch ganz herausragend in die wirtschaftliche Strategie gepasst hätte, nicht noch mehr Geld in den Kader zu stecken. Nur unterschrieb Brescianini Mitte August bei Atalanta Bergamo – weshalb Conte umso dringender Ersatz forderte und energisch nach Norden deutete. Als Kenner der Premier League nach Stationen bei Chelsea und Tottenham wusste er um die Qualitäten der Mittelfeldspieler in England, allerdings auch um die Preisschilder. Die knapp über 30 Millionen Euro, die Napoli am finalen Transfertag nach Manchester überwies, sie wurden damals als enorm hohe Summe wahrgenommen für einen Spieler, dessen Talent unbestritten war, der aber sicherlich nicht als großer Triumphator wechselte, sondern eher als Geflüchteter aus der Heimat.
Der „harte Arbeiter“ McTominay wirkt abseits des Spielfelds wie der Gegenentwurf zum verehrten Exzentriker Marek Hamsik
Seine gesamte Karriere hatte McTominay bis dahin bei United verbracht, er war als Eigengewächs auf natürliche Weise eine Identifikationsfigur – aber eben eine in der völlig falschen Ära. Das Chaos war in Manchester die einzige Konstante, McTominay wurde jeweils von einem Trainer geschätzt und vom nächsten wieder geächtet, ein ewiges Auf und Ab wurde daraus, das erst in Neapel sein Ende fand.
Vom ersten Tag an baute Conte seine Mannschaft nicht etwa um den Künstler Kvaratskhelia auf Linksaußen herum und nicht einmal um seinen Wunschstürmer Romelu Lukaku, sondern in Wahrheit um McTominay, als Mann für alles. Die Position des Box-to-Box-Spielers, sie ist in der vergangenen Dekade genauso schnell aus der Mode gekommen, wie sie zuvor zur taktischen Offenbarung erklärt worden war. Fußballer wie Leon Goretzka und Trainer wie Thomas Tuchel können über ihre jeweiligen Standpunkte zur Thematik ausführlich referieren. In Italien entscheidet die Rückbesinnung auf die Stärken dieses Spielertyps gerade die Meisterschaft: McTominay hat in der Serie A die meisten Ballaktionen eines Mittelfeldspielers im gegnerischen Strafraum, hat inzwischen elf Saisontore erzielt – und trotzdem findet man im Internet Zusammenschnitte seiner besten Klärungsaktionen im hellblauen Trikot.
Offensive und Defensive auf diese Art und Weise miteinander zu verbinden, ist in Neapel in den vergangenen Jahren nur Marek Hamsik gelungen. Der Slowake war 2007 der erste Transfer nach dem Aufstieg in die Serie A, in der damals noch jungen Ära des Klubs unter Aurelio De Laurentiis. Hamsik blieb für zwölf Jahre, wurde Rekordspieler und erlangte nicht zuletzt wegen seines Irokesen-Haarschnitts eine beachtliche Bekanntheit als Exzentriker.
Wie ein Gegenschnitt wirkt McTominay dazu abseits des Feldes, auch wenn es die Parallelen auf dem Platz gibt. Unprätentiös und pflichtbewusst nickte er etwa am Sonntag, als sein Mannschaftskollege Leonardo Spinazzola beim Interview neben ihm stand und in den höchsten Tönen schwärmte: „Ein spezieller Junge ist das, immer mit Freude dabei, ein harter Arbeiter. Man sieht auf dem Feld, was er leistet.“ Hamsiks Torrekorde von einst hat McTominay inzwischen allesamt übertroffen, zur Vollendung dieser fabelhaften Saison fehlt ihm nur noch der Meistertitel, der für die Stadt ein großer Traum wäre – und für McTominay verdienter Lohn. Für eine schon jetzt beachtliche Karriere, in der er allerdings nie die Anerkennung erhielt, die ihm zustand. Bis er nach Neapel kam, wo sie ihm erst Spitznamen verliehen. Und vielleicht bald auch einen Meisterschild.