Süddeutsche Zeitung

Serie A:Eine Debatte, die Italien zerreißt

Wann nimmt die Serie A die Saison wieder auf? Tut sie es überhaupt? Die Diskussion darüber spaltet Klubs und Meinungsmacher. Die Spieler warten auf klare Signale.

Von Oliver Meiler, Rom

Auch in diesen speziellen Zeiten sollte man nicht vergessen, wo das Wort "tifoso" herkommt, die Etymologie offenbart ja manchmal viel über die allgemeinen Bewandtnisse. Tifoso also, Fan auf Italienisch, kommt von Typhus: einem hohen Fieber, das man sich bei einer Infektion mit Salmonellen holen kann.

Nun, da auch in Italien über eine Wiederaufnahme der Fußballmeisterschaft verhandelt wird, laut und herrlich chaotisch wie gehabt, macht sich jeder Verantwortliche im Entscheidungsprozess verdächtig, dass er nach seinem "tifo" handelt, geleitet vom Fieber, das von der Liebe zum Verein rührt. Je nach momentaner Verfassung und Klassement seines Lieblingsklubs. Parteiisch also, politisch.

Alles scheint gerade möglich zu sein - hier in der Folge mit absteigender Wahrscheinlichkeit: eine Wiederaufnahme irgendwann im Juni, ohne Publikum natürlich, letzter Spieltag am 2. August; ein Playoff- und Playoutfinale, vielleicht ausgetragen in Stadien in den weniger getroffenen Regionen in Mittel- und Süditalien; ein Saisonabbruch ohne Vergabe eines Meistertitels und mit einer möglichen Aufstockung der Serie A für die kommende Spielzeit, damit aufsteigen kann, wer es verdient hat, und nicht absteigen muss, wer die Rettung womöglich noch geschafft hätte. Alles offen, alles in den Händen der Entscheider. Sportminister Vincenzo Spadafora ist von allen der unentschiedenste.

Viele Stars sind noch gar nicht nach Italien zurückgekehrt. Cristiano Ronaldo, der bei Juventus Turin angestellt ist, sieht man ab und an in den sozialen Medien: beim Rumpfbeugen im heimischen Funchal. Von Zlatan Ibrahimovic vom AC Mailand gab es Bilder, die ihn beim Fischen zeigen, oder beim Training mit dem schwedischen Klub Hammarby, der ihm zur Hälfte gehört. Sie warten wohl auf klare Signale.

Die Virologen haben Lieblingsklubs

Sogar von den italienischen Starvirologen weiß man jetzt, an welchen Verein sie ihr Herz verloren haben. Und das ist natürlich keine Bagatelle, zum Beispiel bei Giovanni Rezza. Der Römer ist Chef des Departements für Ansteckungskrankheiten im Istituto Superiore di Sanità, Italiens oberster Gesundheitsbehörde, eine der meistgehörten Stimmen seit Ausbruch von Corona. Er sitzt auch im wissenschaftlichen Komitee, das die Regierung berät. Neulich also, als Rezza auf einer dieser traurigen Medienkonferenzen mit den Todeszahlen aus dem Norden gefragt wurde, ob er denke, dass die Serie A ihren Betrieb bald wieder aufnehmen könne, sagte er diesen nicht ganz folgenlosen Satz: "Als Romanista würde ich sagen: Werfen wir hin." Und lächelte.

Ein Romanista ist ein Fan von AS Rom. Im Lager der Laziali, der herzhaft verhassten Stadtrivalen, vermutet man seither, dass nun auch die Wissenschaft gegen sie sei, wie alles: die Natur, das Schicksal, die Fußballgötter, ein Großkomplott. Lazio, muss man dazu wissen, steht nach 26 Spieltagen auf dem zweiten Platz, nur ein Punkt hinter Juventus - und 17 Punkte vor der Roma. Der Titel, er war in 20 Jahren nie mehr so greifbar gewesen, eine versprochene, ach was: eine geschuldete Glorie.

Kein Vereinspräsident in Italien drängt nun mit mehr Macht und Ungeduld auf eine Wiederaufnahme der Meisterschaft als Lazios Claudio Lotito, Besitzer einer Reinigungsfirma, ein Mann mit barocken Weltsichten. Für Lotito ist gerade jeder Bremser, ein Gegner, ein Übertreiber. Wenn die Pause noch lange dauere, glaubt er, lässt die Anspannung seiner Spieler nach, ganz zu schweigen von der Fitness. Und natürlich geht es nur seiner Mannschaft so. Den Rasen in Formello, dem Trainingszentrum im Norden der Stadt, lässt Lotito unterdessen mit einer Hingabe pflegen, die am Sonntagabend belohnt wurde.

Da gab Premierminister Giuseppe Conte bekannt, dass die Klubs der Serie A am 18. Mai immerhin das Training wieder aufnehmen dürfen. Die Debatte aber, ob die Meisterschaft fortgesetzt werden soll, zerreißt politische und sportpolitische Ebenen, sie spaltet Spieler, Klubs, Meinungsmacher. Alle reden mit, mit Passion und Pathos, es geht schließlich um das Fieber vom Fußball. "Heute alles zu stoppen, wäre ein Desaster, und ich will nicht der Totengräber des Calcio sein", sagt Gabriele Gravina, der Präsident des italienischen Fußballverbands.

Mit "Becchino", Totengräber eben, hat er vielleicht nicht den derzeit passendsten Begriff gewählt. Gemeint war der wirtschaftliche Ausfall, der drohen würde: vier Milliarden Euro offenbar. Aber auch bei den Zahlen muss man aufpassen: Es wird recht frivol damit jongliert. Giovanni Malagò, als Präsident des nationalen italienischen Olympiakomitees Gravinas Chef, ist viel skeptischer. "Der Fußball macht einen Fehler", sagt er. "Andere Sportarten haben anders entschieden, und auch für sie war es ein schwieriger, leidvoller Entscheid." In Italien haben etwa der Rugby- und der Basketballverband ihre Meisterschaften definitiv beendet. "Bei solchen Überlegungen braucht es nun mal eine chirurgische Analyse, ein tiefes Wissen der Materie", mahnte Malagò. Vor allem auch ein ärztliches.

Vor einigen Tagen haben 17 der 20 Vereinsärzte der Serie A in einem 20-seitigen Schreiben an den Verband alle ihre Perplexitäten darüber geäußert, wie das ganz praktisch laufen soll: Wer sorgt für die vielen Tests, die es brauchen wird? Soll es Teamzusammenzüge vor den Spielen geben können? Was passiert, wenn ein einziger Spieler positiv auf Corona getestet wird? Was riskieren dann die Ärzte, die für die Gesundheit der Spieler verantwortlich sind? Nur drei Vereinsärzte machten nicht mit: der Doktor von Juve, der vom FC Genua und, natürlich, der von Lazio Rom. Später schickten die Mahner nach, sie wollten ja auch, dass wieder Fußball gespielt werde. Nur wollten sie es mit möglichst großer Sicherheit für Spieler und Mitarbeiter.

Für einige Aufregung hat Romelu Lukaku gesorgt, der belgische Stürmer von Inter Mailand. In einem von diesen nun sehr populären Livevideos auf Instagram erzählte Lukaku, was bei Inter im Januar passiert sei, und da lohnt sich der ganze Wortlaut: "Im Dezember hatten wir eine Woche frei, und als wir nach Mailand zurückkehrten, ich schwöre es, waren 23 von 25 Spielern krank. Das ist kein Witz. Wir haben zu Hause gegen Cagliari gespielt, und nach 25 Minuten musste einer unsere Verteidiger den Platz verlassen, er konnte nicht mehr gerade gehen, er wäre beinahe ohnmächtig geworden. Alle husteten, alle hatten Fieber. Ich hatte auch Mühe, während des Aufwärmens wurde mir ganz heiß. Ich hatte seit Jahren kein Fieber mehr gehabt. Wir haben nie Tests gemacht, wir werden also auch nie wissen, ob es Covid-19 war."

Der Verein dementierte schnell. Vier Spieler hätten Grippe gehabt, das sei doch normal im Winter. Im Netz konnte man dann lesen, es sei kein Wunder, dass der Verein die Geschichte kleinrede, Inter gehöre den Chinesen. Nun ja, es ist eben auch eine Zeit leichtfertigen Gefasels.

Live aus Vieris Wohnzimmer in Mailand

Christian "Bobo" Vieri, eine pensionierte Allzeitgröße des Vereins, 102 Tore in 143 Spielen für Inter, nun 46 Jahre alt und 106 Kilo schwer, wie er selbst alle wissen lässt, hat daraus ein unterhaltsames Genre gemacht. "Bobo Tv" geht fast jeden Abend auf Sendung, live aus Vieris Wohnzimmer in Mailand. Manchmal huscht auch seine Frau durchs Bild, sie hat gerade das zweite Kind des Paars auf die Welt gebracht.

Ihr Mann sitzt also auf dem Sofa, das Handy vor dem Kopf, und redet über Instagram, wo er 2,4 Millionen Follower hat, mit alten Stars: mit Ronaldo (dem wahren, dem Brasilianer), mit Francesco Totti, Paolo Maldini, Andrea Pirlo, alle mit sehr unfrisierten Frisuren. Von 22 Uhr bis weit nach Mitternacht. Man erinnert sich gemeinsam an bessere Zeiten, frotzelt übereinander, macht sich selbst zum Narren.

So nett war Langeweile selten. Es läuft das Zwischenspiel, das lange Intermezzo.

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SZ vom 27.04.2020/ska
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