Süddeutsche Zeitung

Cas-Entscheid zu Caster Semenya:Wann ist eine Frau eine Frau?

  • Der Internationale Sportgerichtshof weist den Einspruch von Leichtathletin Caster Semenya gegen das Testosteron-Limit bei bestimmten Frauenrennen ab.
  • Das Urteil schwankt zwischen Diskriminierung und der Notwendigkeit, den Frauensport zu schützen.
  • Die Südafrikanerin könnte nun vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.

Von Johannes Knuth

Was macht das mit einem Menschen? Wenn er seit einem Jahrzehnt die Blicke der Welt auf sich zieht? Wenn diese Welt raunt und tuschelt, wenn sie intimste Details an die Öffentlichkeit zerrt? Wenn dieser Mensch also eine Attraktion ist, aber nicht für das, was er leistet, sondern für das, was er ist?

Caster Semenya, die 800-Meter-Läuferin aus Südafrika, an der seit nunmehr zehn Jahren die Blicke kleben, hat diese Fragen meist an sich abperlen lassen. Nur ab und zu lüftete sie den Vorhang zu ihren Gedanken, in der vergangenen Woche etwa auf ihren digitalen Profilen. Dort stellte sie erst ein Schwarz-Weiß-Bild von sich aus, man sah nur ihre dunklen Augen und schwarze Haarsträhnen, als wolle sie sagen: Ich bin nun mal so, wie ich bin.

Dann ein Schnappschuss mit ihren Anwälten, betitelt "A-Team", in Anlehnung an die US-Serie, in der eine kleine Kampftruppe Menschen in Notlagen hilft. Schließlich ein Foto von ihrem Abendessen, Kartoffelcurry mit Hähnchenschenkeln. "Caster Semenya hat endlich das Rezept veröffentlicht, mit dem sie all ihre Rennen gewinnt", ulkte die südafrikanische Zeitung Sunday Times. Wenn es nur so einfach wäre.

Die Frage, weshalb Semenya seit Jahren kein Rennen über 800 Meter mehr verloren hat, war ja doch eher diese gewesen: Wann ist eine Frau eine Frau? Oder jedenfalls: eine Frau, die bei einem Leichtathletik-Rennen starten darf? Ist sie es auch dann, wenn sie, grob gesagt, mit einem erhöhten Testosteronspiegel antritt, den ihr die Natur nun mal mitgegeben hat? Oder ist sie es nur, wenn ihr Spiegel unter einem bestimmten Grenzwert liegt? Letzteres hatte der Leichtathletik-Weltverband IAAF zuletzt entschieden und verfügt, Semenya und alle Frauen mit erhöhten Werten müssten diese herunterdimmen.

Semenya hatte dagegen vor dem Internationalen Sportgerichtshof Cas geklagt, sie empfand einen derartigen Eingriff als diskriminierend. Am Mittwoch, nach monatelangen Anhörungen von Gynäkologen, Genetikern, Statistikern, Ärzten und weiteren Experten, schloss sich der Cas dieser Ansicht dann zwar einerseits an. Er urteilte aber auch, dass eine derartige Diskriminierung "notwendig, angemessen und verhältnismäßig" sei - wenn damit das höhere Ziel verknüpft sei, "die Integrität der Frauen-Leichtathletik zu schützen".

Das Urteil war also wie erwartet eines, das ein großes Echo und tiefe Veränderungen nach sich ziehen wird - im Sport, am meisten aber für Athletinnen mit "Differences of Sex Development" (DSD) wie Semenya. Diese müssen ihren Testosteronpegel künftig sechs Monate vor internationalen Rennen mit Medikamenten senken, wollen sie bei den Frauen starten, von 400 Metern bis zur Meile. Ein Erfolg also, der die IAAF "dankbar" stimmte - aber auch einer mit einer schrägen Conclusio: Frauen diskriminieren, um Frauen zu schützen?

Das Urteil am Mittwoch setzte in jedem Fall einen vorläufigen Endpunkt hinter eine Debatte, die vor zehn Jahren mit einem Eklat begonnen hatte. Semenya, 18 Jahre, burschikos, tiefe Stimme, war bei den Weltmeisterschaften im Berliner Olympiastadion in famosen 1:55:45 Minuten zum Titel über 800 Meter gerauscht. Doch anstatt die Siegerin bei der Pressekonferenz zu präsentieren, trat IAAF-Generalsekretär Pierre Weiss auf. Der erklärte, dass man nicht so recht wisse, ob Semenya "zu 100 Prozent" eine Frau sei oder nicht.

Die Aufregung war groß, und einen Monat später berichtete der australische Daily Telegraph, Untersuchungen hätten ergeben, dass Semenya ein Zwitter sei, mit innenliegenden Hoden, ohne Gebärmutter und mit einem dreifach erhöhten Testosteronwert. Gleichzeitig räumte Südafrikas Verband ein, dass er vor der WM einen Geschlechtstest angeordnet hatte, woraufhin die Mediziner empfohlen hatten, Semenya nicht nach Berlin zu schicken. Was der Verband ignorierte. Zehn Monate später hob die IAAF ein Startverbot für Semenya wieder auf, das seit der WM in Kraft war; eine Begründung dafür lieferte er nicht. Was Semenya als erlösende Nachricht auffasste, zog in Wahrheit neue Zweifel nach sich.

2011 erschuf die IAAF eine neue Richtlinie für Athletinnen, deren Körper ungewöhnlich viel Testosteron produzieren. Sie legte einen Grenzwert fest, damals zehn Nanomol Testosteron pro Liter Blut. Wer darüber lag, musste seinen Hormonhaushalt mit Medikamenten herunterpegeln. Semenya, 2012 noch Olympiasiegerin, lief ihrer Bestzeit bald um sieben Sekunden hinterher - bis 2015. Dann brachte Dutee Chand, eine indische Sprinterin, die IAAF-Richtlinie erstmals ins Wanken. Der Cas fror den Grenzwert ein; die IAAF müsse stichhaltiger belegen, dass erhöhte Testosteronwerte den DSD-Athletinnen wirklich einen massiven Vorteil verschaffen.

Semenyas Leistungen? Blühten wieder auf. In Rio wurde sie zum zweiten Mal Olympiasiegerin. Wer sie erlebte, spürte schnell den tiefen Ernst, der sie umwehte; wenn sie lief, wenn sie scheinbar mühelos gewann, sogar wenn sie sich im Ziel freute - meist allein, die Geschlagenen verfolgten sie längst mit Argwohn. Aber wer seinen Unmut laut vortrug, über den ergoss sich oft ein Strom aus Hass, von Semenyas Sympathisanten. Also schwiegen die meisten.

Oder raunten, dass Semenya ihr Können gar nicht ausschöpfe, um zu verhüllen, wie sehr sie bevorteilt sei. Wenn man sie nach dem Rennen auf all die Debatte ansprach, antwortete sie streng: "Excuse me, my friend, wir sind nicht hier, um über Spekulationen zu reden." Vor zwei Jahren, als sie in London zum dritten Mal Weltmeisterin geworden war, sagte sie: "Wenn ich pinkele, pinkele ich wie eine Frau. Ich weiß, dass ich eine Frau bin."

Sebastian Coe, der IAAF-Präsident, glaubte derweil, neue Nachweise gehoben zu haben: Eine von der IAAF lancierte Studie folgerte, DSD-Athletinnen wie Semenya hätten dank ihrer Veranlagung einen Vorteil von bis zu 4,5 Prozent; ihr Testosteronspiegel sei oft dreimal, manchmal bis zu zehnmal so hoch sei wie jener der meisten Frauen. Der Verband zurrte den Testosteron-Grenzwert nun bei fünf Nanomol fest, für Wettbewerbe von 400 Meter bis einer Meile, zufällig Semenyas stärkste Disziplinen. Semenya zog vor den Cas.

Und so türmten sich bei den Sportrichtern in Lausanne wieder die Fragen: Fördert Testosteron so sehr die Leistungen, dass man Athleten wie Semenya aus der Frauen-Klasse verbannen darf? Kann man der Studie der IAAF trauen, die vor Fehlern triefe, wie manche Experten monierten? Und sei es nicht überhaupt so, dass sportliche Leistungen von viel mehr Faktoren abhängen als von einem Sexualhormon, wie die US-Wissenschaftlerin Katrina Karkazis ausführte? Wie können Forscher überhaupt eine Frage mit Schwarz oder Weiß beantworten, wenn die Natur in vielen Grautönen malt?

Und wenn die Gesellschaft einen Menschen hervorbringt, der sich seit seiner Kindheit als Frau identifiziert - darf der Sport diesen Menschen in seine binären Kategorien zwängen? Oder bedeutet die Inklusion einer Minderheit, dass sich diese Minderheit der Mehrheit zumindest ein bisschen anpassen muss, um die Chancengleichheit zu wahren? Gleichheit ist halt schon allein deshalb kompliziert, weil nicht alle Menschen gleich sind.

Die Cas-Richter äußern in ihrem Urteil auch "ernste Bedenken" am Vorgehen des Weltverbands

Die Aufgabe des Cas, beiden Seiten gerecht zu werden, wirkte da wie ein aussichtsloses Unterfangen. Und die erste, zweiseitige Begründung, die er am Mittwoch veröffentlichte, steckte dann auch voller Windungen und Hintertürchen. Zwei der drei Richter schlossen sich im Kern den Erkenntnissen der IAAF an: DSD-Athletinnen wie Semenya, die über einen XY-Chromonsomensatz verfügen - also ein Karyotyp, der männliche Eigenschaften herausbildet - genießen dank ihres Testosteronspiegels offenbar einen massiven Vorteil. Beziehungsweise: Semenyas Seite habe nicht widerlegen können, dass die Annahme der IAAF-Studie nichtig sei.

Allerdings äußerten die Richter und auch manche Experten "ernste Bedenken": Strecken wie die 1500 Meter müsse man womöglich von der Regel ausnehmen, da sei die Beweislage der IAAF sehr dünn. Und was sei mit den Nebeneffekten der Hormonbehandlung? Sei das wirklich gefahrenlos mit der Gabe von Antibabypillen zu erreichen, wie die IAAF behauptet; wo manche Testosteronwerte in der IAAF-Studie doch so abenteuerlich hoch seien? Letztlich, folgerte der Cas, müsse man den IAAF-Paragrafen als "lebendes Dokument" begreifen, man könne ihn jederzeit zugunsten Semenyas kippen, sollte neues Beweismaterial auftauchen.

Ein Sprecher der Südafrikanerin forderte die IAAF im Lichte dieser Bedenken prompt auf, die umstrittene Regel auszusetzen. Der Weltverband teilte allerdings mit, dass man den Paragrafen am 8. Mai wieder ins Regelwerk heben wolle. Sportlerinnen, die ab diesem Zeitpunkt die Grenzwerte nachweislich einhalten, seien bei der in knapp fünf Monaten stattfindenden WM in Doha (27. September bis 6. Oktober) startberechtigt. Also wieder Medikamente?

Caster Semenya könnte auch noch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Fürs Erste teilte sie am Mittwoch mit: "Über ein Jahrzehnt hat die IAAF versucht, mich zu bremsen, aber das hat mich nur stärker gemacht. Die Entscheidung des Cas wird mich nicht zurückhalten."

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SZ vom 02.05.2019/jbe
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