Süddeutsche Zeitung

Schwimmer Paul Biedermann:Er rollwendet und rollwendet und rollwendet

Früher galt Paul Biedermann als gemütlich, jetzt ist er schlicht: professionell. Der Freistil-Spezialist Paul Biedermann hält immer noch die Weltrekorde und hat an seinen Schwächen gearbeitet. Dennoch muss er froh sein, wenn es bei Olympia zu einer Medaille reicht.

Claudio Catuogno, London

"Jeder trainiert, um irgendwann Olympiasieger zu werden", hat der Schwimmer Paul Biedermann vor einem Jahr in einem SZ-Interview gesagt: "Zumindest gehe ich deshalb jeden Tag ins Training." Morgen für Morgen radelt Biedermann von seinem Elternhaus in Halle/Saale zur neuen Schwimmhalle in Halle/Saale, die sie um ein Haar Paul-Biedermann-Halle genannt hätten, was er aber zu verhindern wusste. Jetzt heißt sie Robert-Koch-Halle.

Im Winter ist es draußen noch dunkel, wenn er ins Becken springt, und wenn er wieder raus steigt, ist es oft auch noch nicht richtig hell.

Während es Biedermann vor ein paar Jahren noch genossen hat, im Wasser auch mal den Kopf auszuschalten, zwingt er sich inzwischen, jede Wende, jeden Armzug bewusst auszuführen. Überall auf dieser langen Sportlerreise kann man ja entscheidende Hundertstelsekunden gewinnen oder verlieren, die im Ziel dann den Unterschied ausmachen.

Früher galt Biedermann als gemütlich, man musste ihn antreiben hin und wieder. Jetzt ist er schlicht: professionell. "Du gehst morgens ins Training, schwimmst dein Programm - und dann wachst du erst auf: Das geht jetzt nicht mehr", hat er irgendwann begriffen: "Ich muss immer hellwach sein."

Aber ob das nun reicht? Das Ziel hat Biedermann jetzt unmittelbar vor Augen: Das 400-Meter-Freistil-Finale am Samstagabend, das 200-Meter-Freistil-Finale am Montagabend, vorausgesetzt er qualifiziert sich für beide, und dann sind die Spiele (abgesehen von einem Staffelrennen) für den 25-Jährigen schon wieder vorbei.

Aller Voraussicht nach mit dem Ergebnis, dass Paul Biedermann am Samstagabend nicht Olympiasieger geworden ist. Am Montagabend auch nicht. Und in vier Jahren in Rio ist es dann vermutlich zu spät.

Nun teilen die meisten Menschen (sogar die meisten Leistungssportmenschen) das Schicksal, nie Olympiasieger zu werden. Und selbst wenn Biedermann beim Anblick seiner Freundin Britta Steffen, der Doppel-Olympiasiegerin von Peking, den Eindruck gewinnen könnte, das sei eher der Normalfall als die Ausnahme: Er hat zwar nicht aufgehört, vom perfekten Rennen zu träumen, aber er hat seine Ziele der Realität angepasst. "Insgesamt will ich besser sein als in Peking, aber natürlich nimmt sich keiner Platz vier vor", hat er in dieser Woche gesagt. In Peking war Biedermann Fünfter über 200 Meter.

Eine Olympia-Medaille, darum geht es ihm nun, "eine Medaille war immer mein Traum". Farbe? Egal. Das mag bescheiden klingen für einen, der auf seinen beiden Strecken bis heute die Weltrekorde hält, und von dem man noch jenes Bild in Erinnerung hat, wie er bei der WM 2009 in Rom den Ausnahme-Schwimmer Michael Phelps hinter sich ließ, als verstecke sich in seinem Schwimmanzug ein diskreter Raketenantrieb. Aber das ist drei Jahre her. Seitdem ist viel passiert. Vor allem sind die Schwimmanzüge inzwischen verboten, auch jene ohne Raketenantrieb.

Bei der WM im vergangenen Sommer in Shanghai hat Biedermann seine beiden WM-Titel wieder verloren, er hat allerdings, inklusive Staffel, drei Bronzemedaillen gewonnen. Biedermann, der wegen seines kräftigen Oberkörpers stärker von den Plastikschwimmhäuten profitiert hatte als andere, hatte sich damit in der Weltspitze behauptet. Das bedeutete schon mal eine Menge.

Das Problem war allerdings, dass sich zu dieser Weltspitze nun auch ein gewisser Sun Yang gesellte, ein Teenager aus China. Der benötigte nur ein paar Rennen, dann war allen klar: Biedermann mag ein sehr, sehr guter Schwimmer sein. Sun Yang ist - unabhängig von allen Zweifeln, die seit langem fester Bestandteil des Schwimmsports sind - ein Jahrhunderttalent. Nicht ausgeschlossen, dass der Chinese am Samstag Biedermanns Anzug-Weltrekord über die 400 Meter (3:40,07) mit freiem Oberkörper knackt.

Man wird immer dann nicht Olympiasieger, wenn andere schneller sind, so einfach ist das im Leben der Leistungssportmenschen. Shanghai hat Biedermann in dieser Hinsicht eine Menge gelehrt. Wenn er sich mit den Konkurrenten rechts und links verglich, sah er seine Stärken - ebenso wie seine Defizite. Biedermann schwamm viele Bahnen am schnellsten. Aber er brauchte länger als andere, ehe er seinen Körper bei der Wende herumgewuchtet hatte, und nach der Tauchphase, in welcher sich auch die Freistilschwimmer mit kräftigen Delphin-Beinschlägen vom Beckenrand wegbewegen, hatten ihn andere wieder eingeholt. Michael Phelps und Ryan Lochte zum Beispiel, die beiden Amerikaner.

Hellwach sein, dieses Motto hat Biedermann deshalb ein paar kreative Trainingsansätze beschert. Er übte zusammen mit Nationalmannschafts-Turnern, um seine Sprungkraft zu verbessern. Er rollwendete und rollwendete und rollwendete, "pro Wende", schätzt sein Trainer Frank Embacher, "macht er im Vergleich zu Shanghai eine Zehntelsekunde gut".

Hat er vor lauter Drücken und Rollen das Schwimmen vernachlässigt? Das ist die große Unbekannte. In der Weltrangliste dieses Jahres belegt Biedermann jedenfalls nur die Ränge sieben (200 Meter) und 15 (400 Meter). Das klingt, als zähle er überhaupt nicht zum Kreis der Favoriten. Allerdings hat es das Duo Embacher/Biedermann auch früher schon verstanden, immer auf den Punkt fit zu sein, nie vorher.

Und dann gilt Biedermann ja auch noch als Wettkampftyp, der starke Gegner neben sich braucht, um die letzten Reserven zu mobilisieren. Deshalb darf man es ihm sogar abnehmen, dass er es jetzt "schade" findet, dass Michael Phelps am Sonntag (Vorläufe, Halbfinale) und Montag (Finale) auf die 200 Meter Freistil verzichtet. Phelps zu ärgern, das war praktisch Biedermanns Geschäftsgrundlage als Schwimmer: "Ich bin die Mücke, die um ihn herumfliegt, mal steche ich, mal erwischt er mich." Dass er einen Teil seiner Erfolge dem Gewinner von 14 Olympia-Goldmedaillen abtrotzte, ließ sie noch etwas heller strahlen.

Aber sollte Biedermann am Montag über 200 Meter Bronze gewinnen, dürfte er doch ganz froh darüber sein, dass dieser Phelps nicht auch noch mitgeschwommen ist.

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Quelle:
SZ vom 28.07.2012/ska
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