Witold Banka, der Präsident der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada), hat sich in den vergangenen Monaten große Mühe gegeben, Normalität zu wahren. Der 39-Jährige zeigte sich in den sozialen Netzwerken bei Treffen mit Athletenvertretern in Zimbabwe, bei Anti-Doping-Konferenzen in Usbekistan, beim Strandfußball mit der Familie. Bei letzterem legte Banka, ein einstiger 400-Meter-Läufer für Polen, durchaus Offensivqualitäten an den Tag. Nur bei der Verteidigungsarbeit klafften doch einige Löcher.
Von Normalität ist die globale Anti-Doping-Aufsicht, zwei Wochen vor den Olympischen Spielen in Paris, jedenfalls so weit entfernt wie Zimbabwe vom Nordpol. Noch immer schwelt die Affäre um 23 chinesische Schwimmer, die kurz vor den Spielen 2021 positive Dopingproben abgegeben hatten, bei Olympia dann trotzdem Medaillen gewinnen durften. Unter der Woche präsentierte die Wada nun die nächste Reinwaschung: Ein von ihr ausgewählter, als „unabhängig“ ausgeflaggter Ermittler konkludierte, dass die Wada in der Causa völlig regulär und „unbestreitbar angemessen“ gehandelt habe. Freispruch also, Deckel drauf?
Mitnichten.
Die New York Times und die ARD-Dopingredaktion hatten den Fall im vergangenen April gehoben. Demnach wurden die 23 Schwimmer – so die Version der chinesischen Behörden – im Januar 2021 aus aller Herren Provinzen zu einem nationalen Wettkampf in Shijiazhuang zusammengezogen. Dort wohnten sie im selben Hotel. Später fand die chinesische Anti-Doping-Agentur (Chinada) bei den Athleten Spuren des Herzmedikaments TMZ in den Dopingproben. Allerdings wurden die Athleten, offenkundig an den Anti-Doping-Regeln vorbei, mit einer vorgreifenden Erklärung freigepaukt: Chinas Nationalpolizei hatte TMZ-Spuren in der Küche des Athletenhotels gefunden, angeblich Monate, nachdem die Sportler dort gespeist hatten, inmitten der Corona-Zeit mit ihren strengen Hygieneregeln. Irgendwie, so die Conclusio, muss das Herzmittel von dieser Küche in das Essen der Athleten gelangt sein.
Die Wada verzichteten darauf, dagegen vor dem Internationalen Sportgerichtshof zu protestieren. Keine Chance auf Erfolg, beteuerten sie. Vor allem Travis Tygart, der Geschäftsführer der amerikanischen Anti-Doping-Behörde (Usada), reagierte fassungslos. Er warf der Wada und China vor, die Fälle „unter den Teppich gekehrt“ zu haben. Die Wada wies das scharf zurück, heuerte den Staatsanwalt Eric Cottier als Ermittler an, der den Fall noch einmal durchleuchten solle, transparent und unabhängig.
Tatsächlich ist Cottiers Nähe zum Spitzensport verbrieft – nicht nur, weil er lange im Schweizer Kanton Waadt wirkte, der Heimat vieler olympischer Dachorganisationen. Als die Wada zuletzt nach einem Ermittler für den Fall suchte, erhielt sie einen Anruf von Jacques Antenen. Der hatte der Wada einst als Revisor gedient, auch zu jener Zeit, als die Fälle der chinesischen Schwimmer aufkamen – und war Polizeichef des Kantons Waadt. Damals Generalstaatsanwalt des Kantons: Cottier. Den brachte Antenen nun bei der Wada ins Spiel.
Zwei ranghohe Wada-Mitarbeiter bezweifelten die chinesische Version zunächst massiv
Die Wada wies jegliche Zweifel an Cottier prompt zurück. Allerdings händigte der Anwalt in seinem Zwischenbericht, binnen gerade mal zwei Monaten, der Wada nicht nur eine Absolution aus. Er verstieg sich zu der These, die Wada hätte unverhältnismäßig gehandelt, hätte sie gegen 23 Athleten auf einmal ein Berufungsverfahren eingelegt. Das könne sich ja weit länger als 18 Monate ziehen, die bei singulären Berufungen schon mal ins Land gehen. Wie schön: Wer künftig dopen will, braucht sich bloß in Mannschaftsstärke zusammenschließen?
Das, was sich im Anhang von Cottiers Zwischenbericht versteckt, wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Demnach bezweifelten zwei hochrangige Wada-Mitarbeiter die Version der Chinesen massiv, als der Fall erstmals aufkam. Olivier Rabin, der Wissenschaftsdirektor der Agentur, merkte an, dass die Chinesen weder eine exakte Quelle der TMZ-Verunreinigung ausgemacht hatten, noch einen Mitarbeiter im betroffenen Hotel, der damals TMZ konsumierte. Das „überraschte“ Rabin. Es sei jedenfalls „nahezu unmöglich, ein realistisches Szenario zu entwerfen“, für die Kontamination.
Rabins Kollegin Irene Mazzoni pflichtete bei: Minimale Dosierungen in der Küche zwei Monate nach der angeblichen Kontamination, keine Quelle – alles wenig plausibel. Mazzoni folgerte jedoch, wie Rabin, Bemerkenswertes: Da man die Kontaminierungsgeschichte nicht plausibel habe widerlegen können, müsse man sie halt akzeptieren. Zumal die Grenzen wegen der Pandemie damals geschlossen waren.

Nur: Als der Fall im vergangenen April an die Öffentlichkeit gelangte, sprach Wada-Präsident Witold Banka plötzlich von einem „relativ klaren Fall von Massenkontamination“. Olivier Rabin, der Wissenschaftschef, präsentierte gar ein mögliches Szenario: Ein Angestellter des Hotels habe womöglich eine TMZ-Pille zerkleinert, Spuren davon könnten ins Essen geraten. Hatte Rabin drei Jahre zuvor nicht noch erstaunt festgestellt, dass sich kein Hotelmitarbeiter als TMZ-Quelle hatte auftreiben lassen? Dass es „nahezu unmöglich“ sei, ein Kontaminierungsszenario zu rekonstruieren?
Die Wada geht auf Anfrage nicht explizit auf diese erstaunliche Evolution ein. Sie betont lediglich, dass, „trotz aller Skepsis alle verfügbaren Beweise auf unverschuldete Kontamination hinweisen“. Dies halte der Sonderermittler nun ja ebenfalls für „vertretbar“.
Bleibt noch eine Frage, die zuletzt heftig an der Schlüssigkeit der ursprünglichen Version rüttelte: Die Chinada hatte stets betont, dass die 23 positiv getesteten Schwimmer im selben Hotel einquartiert waren. Das ließ eine Kontamination dort zumindest plausibel erscheinen. Die ARD präsentierte unlängst allerdings eine Quelle, die behauptete, dass alle 23 Schwimmer eben nicht im betroffenen Hotel untergebracht waren. Dies habe man mithilfe von Chat-Nachrichten aus Chinas Schwimmszene untermauert.
Ein Sportrechtler plädiert dafür, das Verfahren neu aufzurollen
Auch betonte die Quelle, dass einige Schwimmer vor dem verhängnisvollen Aufenthalt in Shijiazhuang gemeinsam betreut waren, im nationalen Sportzentrum in Peking. Die Chinada hatte das ganz anders geschildert, demnach hatten die Athleten zuvor in ihren Provinzen trainiert. In diesem Lichte erschien es auch als unwahrscheinlich, dass sie zuvor gemeinsam gedopt hatten, später womöglich Restspuren von TMZ in den Tests aufschienen. Aber jetzt?
Nicht nur der Düsseldorfer Sportrechtler Paul Lambertz sieht in dieser neuen Beweislage einen Wendepunkt: „Man kann das Verfahren durchaus noch einmal aufrollen“, sagt er, etwa mithilfe eines wirklich unabhängigen Ermittlers. Zugleich könne man sich fragen: „Wenn Reporter an diese Informationen gelangen können, kann oder hätte dies nicht auch die Wada können müssen, die mit ihrer Untersuchungskompetenz und Vernetzung noch über ganz andere Ressourcen verfügt?“
Zumindest hatte die Wada versprochen, dass sie neue Informationen jederzeit prüfen werde. Zumal 11 der damals positiv getesteten 23 Schwimmer auch in Paris starten sollen, was Proteste von Konkurrenten provozieren könnte, wie Schwimm-Bundestrainer Bernd Berkhahn zuletzt vermutete.
Ob sie diesen neuen Informationen also nachgehen wird? Will die Wada auf Nachfrage nicht sagen.
Bis zuletzt schien die Agentur ihre Kräfte eher darauf zu verwenden, all jene zu verklagen, die der Wada Vertuschung vorgeworfen hatten. Als der Sportausschuss der Bundesregierung die Agentur indes einlud, bei einer Anhörung Stellung zu beziehen, blieb die Einladung unerwidert. Politiker wie Philip Krämer (Grüne) hatten zuvor schon die Sinnfrage gestellt: ob die 1,25 Millionen Euro an Steuergeldern, mit denen der Bund die Wada derzeit jährlich finanziert, dort wohl noch sinnvoll angelegt seien – oder nicht besser in einem neuen Kontrollsystem.