Süddeutsche Zeitung

Projekt "Schwimmen lernen":"Es ist lebensgefährlich, wenn man nicht schwimmen kann"

Christian Tröger gewann als Schwimmer zwei WM-Titel und dreimal Olympia-Bronze. Im Interview erzählt er von der finanziellen Schere bei Schwimmkursen, langen Wartelisten, frierenden Kindern - und der ständigen Trainersuche.

Interview von Sebastian Winter

SZ: Herr Tröger, wann haben Sie eigentlich schwimmen gelernt?

Christian Tröger: Mit dreieinhalb Jahren, dies war allerdings ein glücklicher Umstand, weil meine Eltern auf ihrem Grundstück einen Pool haben. Damit war ich im positiven Sinne mit dem Medium Wasser konfrontiert. Meine Schwester, zweieinhalb Jahre älter, konnte da schon schwimmen, und was macht der kleine Bruder? Hüpft hinterher. Mein Vater und meine Mutter kommen aus dem Schwimmsport, mein Vater hatte eine Weltbestzeit und ist nur wegen einer unsauberen Brustbeintechnik nicht zu Olympia 1960 gekommen, das ist ein bisschen sein Trauma. Meine Mutter war Turmspringerin und dort Vize-Studentenweltmeisterin. Wie hätte ich Fußballer oder Tennisspieler werden sollen bei der Vorprägung?

Was ist das Faszinierende an diesem Sport?

Dieses fast schwerelose Schweben im Wasser. Und das Gefühl, jeden Druck, den man ausübt, in Vortrieb ummünzen zu können. Man schwimmt idealerweise nicht gegen das Wasser, sondern mit ihm.

Schwimmen muss zugleich jeder Mensch können.

Andersherum: Es ist lebensgefährlich, wenn man es nicht kann. Schwimmen ist kein Luxus, sondern - im Gegensatz zu, sagen wir, Fußball, Skifahren oder Paragliding - etwas Essenzielles, das man im Leben neben Lesen und Schreiben unbedingt braucht. Früher war es fester als heute verankert, bezeichnenderweise gab es ja im alten Rom den Spruch: ,Intelligent ist, wer lesen und schwimmen kann'.

Heute können immer weniger Kinder schwimmen. Warum?

Viele wollen, aber sie können nicht. Erstens geht es ums Finanzielle. Ein zehnstündiger Schwimmkurs kostet in München und Umland schon mal 200 bis 250 Euro. Für viele nicht ganz so reiche Familien ist das eine Hürde. Zweitens gibt es zu wenig Angebot für zu viel Nachfrage. Unsere Kurse waren schon vor Corona voll, damals gab es aber noch keine so langen Wartezeiten. Wir haben das System "First come, first serve" etabliert, fairer geht es nicht. Nun aber haben wir das Problem, dass wir unsere Kurse auch durch Corona inzwischen drei- bis fünffach besetzen könnten. Und dieser Überhang trifft auf zu wenig Wasserfläche. Die Schwimmbäder haben nur bestimmte Öffnungszeiten, wir konkurrieren mit Seniorenschwimmen, Aqua-Gymnastik, Freizeitschwimmen, Vereinsschwimmen. Dazu kommt, dass die Schulbäder in der Regel ab 14 oder 15 Uhr zumindest für externe Anbieter nicht mehr anmietbar sind. Und: Es fehlt an Trainern, die uns kompetent und begeisternd unterstützen.

Ist der Job für potenzielle Trainer zu unattraktiv?

Die Bezahlung ist ein Thema. Eine Schwimmschule muss den Trainer zahlen, die Wasserfläche zahlen, die Logistik dahinter. Und der Kurs soll zugleich noch finanzierbar sein für die Teilnehmer. Wenn ich einen Kurs für 400 Euro anbiete, dann haben wir wieder die soziale Spreizung, die Kinder aus besseren Stadtteilen machen ihn, die aus ärmeren Vierteln eher nicht. Man kann den Trainern daher keine exorbitanten Stundensätze versprechen. Das Zweite: Es ist kein 9-to-5-Job, wir sind da zeitlich limitiert. Für einen Trainer macht es aber keinen Sinn, für ein oder zwei Stunden Training von Moosach nach Grünwald zu fahren und wieder zurück.

Wie lange dauert eine Trainerausbildung?

Streng genommen ist Schwimmtrainer keine geschützte Berufsbezeichnung. Tatsächlich kommt es ganz darauf an, was der Kandidat mitbringt. Die Grundvoraussetzung: Er muss schwimmen können. Wichtig wäre auch ein Erste-Hilfe-Schein. Dann sollte er ins Team passen und die Inhalte positiv und einfach vermitteln können. Aber 20 bis 30 Stunden Ausbildung sind eine realistische Zeitspanne. Wir brauchen keine Akademiker, sondern gerade bei Kindern Leute, die in Bildern und Analogien und schönen Vergleichen sprechen können. Und die mit etwa 20 bis 25 Euro Stundenlohn leben können. Es gehört da auch eine gehörige Portion Idealismus dazu.

Was raten Sie Familien, die auf langen Wartelisten in der Großstadt stehen? Selbst beibringen? So oft wie möglich ins Wasser, auch im Winter?

Sowohl als auch. Wir haben uns dagegen entschieden, mit Wartelisten zu arbeiten. Auch weil ich es für unseriös halte, wenn die Mama eines Vierjährigen bei uns anruft, dann zu sagen, ja wenn er sechs wird, hätten wir vielleicht mal einen Platz frei. Man sollte als Eltern auch hartnäckig sein, immer wieder anrufen. Kinder steigen mal aus dem Kurs aus, andere können nachrutschen. Klar ist es auch ganz schwer, die richtige Schwimmschule zu finden. Wir machen das hier im Münchner Süden seit mehr als 20 Jahren, vieles funktioniert über Mundpropaganda. Aber es ist auch eine Vertrauenssache, mein Kind jemandem zu übergeben in einem Medium, das Neuland und nicht ganz ungefährlich ist.

Könnte das auch in München nicht viel besser laufen, beispielsweise mit einer Ampel, die freie und belegte Kurse anzeigt, auch in Kooperation mit Privatanbietern?

Es ergibt Sinn, das zu orchestrieren. Wenn die Stadt trotz ihrer Problematik mit der Digitalisierung und Vernetzung soweit käme, zu sagen, okay, hier ist in vier Wochen ein Schwimmkurs, und es sind noch Plätze frei, das wäre wunderbar. Sicherlich gehört Schwimmen auch an den Schulen noch mehr gefördert und nicht primär von den privaten Anbietern. Das ist ein strukturelles Problem. Eine Unterstützung vom Staat und von der Schule könnte dem Ganzen viel mehr Druck nehmen. Flächendeckend könnte man da noch viel mehr PS auf die Straße bringen.

Es gibt die Münchner Schwimmoffensive und andere Bemühungen.

Auch die Staatsregierung hat eine wunderbare Initiative gestartet, wo sie allen Kindern, die einen Seepferdchenkurs machen, 50 Euro schenkt. Aber der administrative Aufwand war sehr groß, und es bringt nichts, eine ohnehin große Nachfrage noch mal anzuheizen, wenn ich mangels Trainern und Wasserfläche bereits jetzt nicht genügend Kurse anbieten kann. So ist der Vorstoß nicht zu Ende gedacht.

Und jetzt kommt noch die Energiekrise dazu.

Die ist ein weiterer Verstärker. Da sagen manche Badbetreiber: Wir schließen komplett oder machen später auf oder reduzieren die Temperatur. Also gibt es noch weniger Wasserfläche für die ohnehin schon auf ihren Kurs wartenden Kinder. Und wenn ein Vierjähriger mit null Prozent Fett am Körper ins Schwimmbecken steigt, das 24 Grad hat, dann ist er nach einer Viertelstunde durchgefroren. Das Becken muss keine 32 Grad warm sein, 27, 28 Grad sind für Kinder schon ganz gut. Aber so zitternde kleine Lebewesen, die mit blauen Lippen am Beckenrand festfrieren - das zieht allen den letzten Stöpsel.

Ein Kind hat das Seepferdchen geschafft. Kann es schwimmen?

Ja, aber halbwegs stabil nur unter idealtypischen Bedingungen. Mal umgekehrt: Ein Kind, das das Seepferdchen gemacht hat, geht in einen See oder ins Meer, 18 bis 20 Grad, es gibt Wellen, der Grund ist rutschig. Spätestens dann wird es kritisch. Das Seepferdchen ist ein gutes Grundgerüst, aber in Sicherheit wiegen darf man sich damit nicht, geschweige denn als Eltern sich in den Liegestuhl legen. Mit dem Bronze-Abzeichen sollte das Kind so stabil schwimmen können, dass ich mir als Elternteil keine großen Sorgen mehr machen würde. Übrigens: Auch unsere Tochter hat im ersten Umlauf ihr Seepferdchen-Abzeichen nicht geschafft - aber das ist doch auch eine Erfahrung auf dem Weg zur sicheren Schwimmerin. Inzwischen schwimmt sie in der zweiten Wettkampfmannschaft des SV Ottobrunn.

Denken Sie selbst eigentlich noch oft an die alten Zeiten zurück?

Immer wieder. Die erste olympische Medaille war ein Highlight, auch weil wir damit nicht gerechnet haben. Es war die erste Medaille des gesamten deutschen olympischen Teams, und die Aufmerksamkeit von 20 000 Zuschauern auf der Tribüne und die Medienpräsenz erlebt man als Vertreter einer medialen Randsportart nicht so häufig. Ich bin gleichzeitig froh, nicht mehr 13 Mal pro Woche ins Wasser zu müssen im Training. Aber dieses Element ist nach wie vor mein Lebenselixier.

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