Süddeutsche Zeitung

Schwimmen:Großes Problem, große Idee

Die Bundestrainer im Schwimmen wenden sich mit einem Weckruf an den eigenen Vorstand: Sie brauchen einen neuen Leistungssportdirektor. Am liebsten hätten sie den alten zurück - oder Michael Groß, den dreimaligen Olympiasieger.

Von Saskia Aleythe und Claudio Catuogno

Es wird noch geschwommen, das ist vorneweg vielleicht die beruhigende Nachricht. Vor Ostern sind sogar deutsche Rekorde gefallen bei der Olympia-Qualifikation der deutschen Schwimmer; und von denen, die schon ihr Startrecht für Tokio haben, wird auch die ein oder andere Medaillenchance im Training die Muskeln anheizen. Doch fernab der richtigen Zwischenzeiten ist die Verunsicherung groß im Deutschen Schwimm-Verband (DSV) - so groß, dass sich fünf Bundestrainer und die Athletensprecherin Sarah Köhler mit einem internen Brief an das eigene Präsidium gewendet haben, der vor allem eines ist: Ein Weckruf, der im deutschen Sport Seltenheitswert besitzt.

Die Vorgänge der vergangenen Monate rund um die Absetzung des Leistungssportdirektors würden aktuell zu einer Situation beitragen, die "den Bereich des Leistungssports in seiner bedeutendsten Phase, den Olympischen Spielen, massiv lähmt", schreiben die Unterzeichner. Sie werben beim im November neu besetzten Präsidium dafür, dass der abgesetzte Thomas Kurschilgen rehabilitiert wird. Die Angst ist groß, in Japan ohne kräftige Stimme nach außen und beruhigende Einflüsse nach innen dazustehen. Und weil dem Gespann um Teamchef Bernd Berkhahn und Teamcoach Hannes Vitense klar ist, dass es mit einer Wiedereinstellung von Kurschilgen kurzfristig schwierig werden könnte, haben sie auch eine konkrete Alternative für den Übergang inklusive Olympia in Tokio im Angebot: Michael Groß, dreimaliger Olympiasieger.

Vor allem eines wird dabei deutlich: So wie es derzeit im Verband zugeht, soll es nicht weitergehen. Und: Es muss schnell eine Lösung her.

Die Dringlichkeit des Appells beruht auf einer Frist des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB): Bis Freitag muss der DSV dem DOSB die Namen derjenigen mitteilen, die mit nach Tokio reisen sollen. Also auch den zukünftigen Leistungssportdirektor. "Das ist ein produktiver Lösungsvorschlag", sagt Bernd Berkhahn zu dem Schreiben, unter dem auch sein Name steht, und in dem auch deutlich wird, wie sehr die Trainer im Land um ihre in den vergangenen Jahren erst errungenen Fortschritte bangen. Von Kurschilgen hatte sich der DSV Ende Februar getrennt, im Prozess der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs durch einen ehemaligen Bundestrainer wird ihm offenbar vorgeworfen, die Vorwürfe nicht ausreichend verfolgt zu haben. Was mit dem Vorgang betraute Personen im Verband allerdings anders schildern, auch der Brief greift das auf: "Es wurde unverzüglich der im DSV offiziell zuständige "Beauftragte für die Prävention sexualisierter Gewalt" eingeschaltet und der damalige DSV-Vorstand umgehend informiert."

Kurschilgen wäre vertraglich noch jahrelang an den DSV gebunden gewesen, eine nun folgende juristische Auseinandersetzung würde den Verband einiges kosten. Was zusätzlich Zukunftsängste nährt, im Schreiben der Bundestrainer wird eine "finanzielle Schieflage" des Verbandes befürchtet: Neben den Einnahmeverlusten durch weggefallene Lizenzgelder in der Pandemie trage auch der Einsatz der Unternehmensberatung Rosenbaum-Nagy dazu bei. Für die Nachfolge von Kurschilgen hatte Michael Rosenbaum den ehemaligen Wasserballer Dirk Klingenberg berufen, der seinen Job nur wenige Stunden nach dem Bekanntwerden wieder verlor: Alte Fotos zeigten ihn im Pool mit spärlich bekleideten Frauen, sein damaliges Team hatte sich von einem Bordell sponsern lassen. Das erfülle nicht die hohen moralischen Ansprüche im DSV, schrieb das Präsidium später an seine Mitglieder, es entschuldigte sich für die Vorgänge und versicherte, an einer Lösung zu arbeiten.

Doch weiß man im Vorstand überhaupt um die Aufgaben und die Bedeutung des Leistungssportdirektors? Zwischen den Zeilen werden im Schreiben der Bundestrainer Zweifel deutlich. "Die Aufgaben eines Direktors Leistungssport können [...] nicht durch zeitweilige Arbeitsübertragung an die Bundestrainer*innen oder durch den DSV-Vorstand und auch nicht durch den Geschäftsführer einer Unternehmensberatung erfolgen." Offenbar hatte es derartige Pläne gegeben, deswegen folgt auch eine Aufklärung, wie eine nötige Qualifikation auszusehen hat: "für diese strategisch wichtigen Positionen gibt es mittlerweile ganze Studiengänge und Ausbildungswege." Anfragen der SZ zu den aktuellen Vorgängen ließ das Präsidium unbeantwortet. Kurschilgen war im Sommer 2018 vom Deutschen Leichtathletik-Verband zu den Schwimmern gekommen und hatte die Professionalisierung mit neuen Stellen vorangetrieben, seine Arbeit wurde von vielen vor allem im Zuge der Leistungssportreform wertgeschätzt.

Dass die Zeit weniger als vier Monate vor den Olympischen Spielen drängt, ist allen klar - schon am Dienstag soll DSV-Präsident Marco Troll auf das Schreiben reagiert haben, erste Gespräche mit Michael Groß sollen nach SZ-Informationen stattfinden. "Er sieht eine Perspektive für den Weg, den wir gehen. So eine Persönlichkeit integrieren zu können, wäre für einen Spitzenverband eine super Gelegenheit", sagt Berkhahn. Groß hatte 1988 in Seoul seine beiden letzten von insgesamt sechs Olympia-Medaillen gewonnen, auch 13 WM-Medaillen konnte er in seiner Karriere erobern. Anschließend war der 56-Jährige unter anderem in der Sporthilfe tätig und als selbstständiger Unternehmensberater. Groß selber gibt sich bedeckt. Er habe unter Berücksichtigung bestimmter Bedingungen seine Bereitschaft zur Mitarbeit signalisiert, heißt es in dem Schreiben. "Eine mit vielen Konjunktiven versehene Aussage", kommentiert er das selber, "der DSV ist jetzt am Zug".

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