Schwimm-WM in Südkorea:Die Wunden heilen

Schwimmen Kurzbahn EM in Kopenhagen 400m Lagen Herren 171214 Tysklands Philip Heintz tävlar i fin

Wutausbruch war gestern: Lagenschwimmer Philip Heintz hat diesmal eine störungsfreie WM-Vorbereitung hinter sich.

(Foto: Petter Arvidson/Bildbyran/Imago)
  • Bei der Schwimm-WM greifen nun auch Deutschlands Beckenschwimmer ein und es stellt sich die Frage: Wann gibt es endlich wieder große Erfolge?
  • Es hat sich einiges getan beim DSV, doch noch immer ist der Blick auf die Vergangenheit gelenkt.

Von Saskia Aleythe und Claudio Catuogno

In der Sonne vor der Cafeteria des Olympiastützpunkts Heidelberg sitzt der Schwimmer Philip Heintz, 28, und erzählt von seinem Ritual vor dem Einschlafen. Wie er im Bett oft noch mal seine Gedanken sammelt, die Augen schließt - und das Rennen im Kopf schon mal durchspielt. DAS Rennen: das Finale über 200 Meter Lagen bei Olympia in Tokio im kommenden Sommer.

Philip Heintz beginnt mit dem Einmarsch der acht Finalisten, einer von ihnen ist er selbst. Die anderen sind nur insofern wichtig, als dass er am Ende schneller sein muss als sie. Dann das Startsignal. 17 Züge Schmetterling hin, 34 oder 35 Armzüge Rücken zurück, 17 Züge Brust ...

Manchmal stoppt Heintz das Kopfkino, bevor er die abschließende Kraulstrecke erreicht. Wenn ihm eine Wende unsauber vorkam, schwimmt er noch mal neu auf die Wand zu und steuert die Muskulatur präziser an. "Wenn ich im Becken zehn Wenden mache, bin ich kaputt, dann wird die elfte nicht mehr besser", sagt er. "Im Kopf kann ich hundert machen." Manchmal baut Heintz auch Hindernisse ein, zum Beispiel könnte einem ja die Brille verrutschen. Wenn man das daheim im Bett schon mal erlebt hat, wirft es einen in Tokio im Becken nicht mehr so aus der Bahn.

Konsequenter kann man als Sportler wohl kaum nach vorne schauen.

Sein Psychologe hat Heintz die Technik beigebracht. Beim ersten Versuch ist Heintz gleich einen Weltrekord geschwommen, 200 Meter Lagen in einer Minute. Das war aber nicht der Sinn der Sache. Inzwischen trifft er auch im Kopf fast immer ungefähr 1:55 Minuten. Die Zeit, die es in Tokio brauchen wird für eine Medaille.

Die Schwimm-WM in Gwangju, bei der am Sonntag die Beckenwettbewerbe beginnen und bei der auch sein Name fällt, wenn es um Medaillenkandidaten geht, ist für Philip Heintz also nur eine Zwischenstation. Er blickt nach vorne, weiter als bis Südkorea, einen Sommer weiter. Was in der Sonne vor der Heidelberger Cafeteria jetzt aber schwierig ist, weil man Heintz natürlich noch mal auf den Eklat ansprechen muss, den er bei der letzten WM ausgelöst hat.

Wutausbruch in der Pressezone

Vor zwei Jahren in Budapest hatte Heintz in der Pressezone einen Wutausbruch. Er war bloß Siebter geworden, vor allem aber war er anderthalb Sekunden langsamer als bei der WM-Qualifikation zuvor. Umgekehrt wäre es besser gewesen. Aber weil der damalige Chefbundestrainer Henning Lambertz extrem harte Qualifikationsnormen angesetzt hatte, hatten Heintz und sein Trainer Michael Spikermann den Formaufbau auf die Quali ausgerichtet. Ergebnis: Weltjahresbestzeit! Da ahnten sie aber schon, dass diese Form nicht zu konservieren sein würde bis zur WM fünf Wochen später.

"Das war schon ein bisschen geplant", sagt er heute über den Furor, der damals vermeintlich ungefiltert aus ihm herausplatzte. Klar: Einer, der im Training jedes Detail hinterfragt, der 2019 schon den Muskel ansteuert, den er 2020 bei der dritten Wende braucht, der kriegt keine spontanen Wutausbrüche. Eher war es so, dass Heintz mal auf Widersprüche hinweisen wollte. Sein Appell damals: "dass man die Leute, die schon öfter gezeigt haben, dass sie Leistung bringen, einfach mal in Ruhe lässt im Training. Und denen einfach ein bisschen Vertrauen entgegenbringt".

Schwimm-Teamchef Bernd Berkhahn

Neuer Teamchef der Schwimm-Nationalmannschaft: der Magdeburger Stützpunkttrainer Bernd Berkhahn, der den Leistungsträgern wieder mehr Freiheiten gewährt.

(Foto: Ronny Hartmann/dpa)

Inzwischen sind die ultraharten Normzeiten ebenso Geschichte wie der Chefbundestrainer Lambertz, und deshalb soll es jetzt auch gut sein mit dem Zurückblicken, findet Heintz. Aber das ebenso Kuriose wie Erschreckende am deutschen Schwimmen ist in diesen Tagen eben: In nahezu jedem Satz darüber, wie man sich auf die WM vorbereitet, wie man im Team miteinander umgeht, welche Standards man bei der Leistungsdiagnostik oder der Nachwuchsentwicklung anlegt - in alldem steckt zwangsläufig auch der Blick zurück, auf die sechs Jahre unter Lambertz, der kurz vor Weihnachten zurücktrat und jetzt in Wuppertal an einer Realschule unterrichtet. Vermutlich ist selten im deutschen Olympia-Sport eine Ära so umfassend rückabgewickelt worden wie die Ära Lambertz. Und nun, zur WM, brechen alte Bruchlinien wieder auf.

Der Trainer Spikermann zum Beispiel, der jetzt ein Tablett mit drei Bechern Mensakaffee auf die Terrasse in Heidelberg balanciert, war damals vorübergehend abgemeldet. Spikermann hatte das viel zitierte Kraftkonzept, den Kern von Lambertz' Leistungssport-Philosophie, mal einer fachlichen Bewertung unterzogen und ein paar Risiken benannt. Er galt dann als Bedenkenträger.

In Gwangju gehört Spikermann wieder zum Trainerteam. Genauso wie der Magdeburger Bernd Berkhahn, der Coach des neuen Freiwasser-Weltmeisters und Becken-Hoffnungsträgers Florian Wellbrock, 21. In Budapest, wo seine Athletin Franziska Hentke mit Silber über 200 Meter Schmetterling die einzige Medaille für den deutschen Verband gewann, hatte Berkhahn eine Art Beckenrandverbot. Aufs WM-Gelände kam er nur, weil ein Sponsor ihm ein VIP-Bändchen besorgt hatte. Jetzt, in Gwangju, ist Berkhahn der neue Teamchef und zuständig für alle Entscheidungen rund um das Nationalteam.

So kann man ewig weitermachen. Die Schwimm-Experten vom Leipziger Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT), von deren Tüftelei schon Britta Steffen bei ihrem Doppelolympiasieg 2008 profitiert hatte, waren unter Lambertz nicht mehr gefragt und mussten sich in Budapest über einen anderen Verband akkreditieren, um Daten über deutsche Schwimmer zu sammeln. Und es konnte unter Lambertz auch mal vorkommen, dass ein junger Hoffnungsträger seinen Kaderstatus verlieren sollte, weil er seine Trainingsdokumentation ein paar Stunden zu spät abgeliefert hatte. Rückblickend kommt einem das deutsche Schwimmen der Jahre 2013 bis 2017 wie eine Mischung aus Autokratie und Sekte vor.

Wunram holt Silber

Freiwasserschwimmerin Finnia Wunram hat WM-Silber über 25 Kilometer gewonnen. Die 23-Jährige musste sich am Freitag in Yeosu nur der brasilianischen Fünf-Kilometer-Weltmeisterin Ana Cunha geschlagen geben. Als Dritte schlug nach über fünf Stunden die Französin Lara Grangeon an. "Ich bin gerade einfach nur froh, dass es durch ist", sagte die Magdeburgerin. "Dass da Silber bei rausgesprungen ist, ist natürlich umso schöner." Am letzten Tag der Freiwasserwettbewerbe bei den Titelkämpfen in Südkorea sorgte Wunram für die fünfte Medaille für das Freiwasserteam von Bundestrainer Stefan Lurz. Nach Bronze über fünf Kilometer bei der WM 2015 in Kasan war es für Wunram die zweite WM-Medaille ihrer Karriere. dpa

Derjenige, der schließlich die Bremse betätigt hat, ist Thomas Kurschilgen, 58, seit Herbst der neue Direktor Leistungssport - die letzte große Personalentscheidung der DSV-Präsidentin Gabi Dörries, ehe sie selbst wegen eines Streits um die Verbandsfinanzen zurücktrat. Nach ein paar Wochen war damals schon klar, dass Lambertz' Arbeitsweise und Kurschilgens Blick auf den Leistungssport, den er unter anderem beim Leichtathletikverband und beim Deutschen Olympischen Sportbund geschärft hatte, nicht in Einklang zu bringen sein würden. Lambertz ging dann freiwillig, er wolle mehr Zeit mit seinen Töchtern verbringen, ließ er ausrichten.

Aber Lambertz mischt weiter mit, unter anderem als Heimtrainer der WM-Starter Marco Koch und Reva Foos. Und zum WM-Start auch mit diversen Interviews: Jeder dürfe im DSV jetzt wieder "machen, was er will", kritisierte er seine Nachfolger. Es fehle "eine klare Idee" und manches mehr.

Wie reden über das Schwimmen?

Der neue Sportdirektor Kurschilgen und der neue Teamchef Berkhahn haben zu alldem wenig gesagt in den letzten Monaten, womöglich zu wenig, und Hannes Vitense aus Neckarsulm, bei dem als neuem sogenanntem Teamcoach nun die fachliche Konzeption, Steuerung und Führung liegen, musste die Reise nach Südkorea wegen einer Erkrankung stornieren. Bloß: Wie soll man gerade öffentlich reden über das gegenwärtige Schwimmen, ohne es immer gleich von seiner jüngeren Vergangenheit abzugrenzen?

Also ohne schmutzige Wäsche zu waschen? Mitte vergangener Woche, da hatte er bereits die ersten Schlagzeilen vom angeblichen Planlos-Verband DSV lesen müssen, hatte Kurschilgen dann aber doch genug. Im Interview mit der SZ rief er Lambertz ein paar Dinge hinterher: seine "absurden Normen", seine "gnadenlose Konzeptdoktrin", den Umstand, dass er die erfolgreichsten Trainer "ausgegrenzt" habe. Trainingssteuerung heiße eben nicht, sagte Kurschilgen, dass es einen "Obercoach" geben müsse, "der sich als besserer Trainer versteht und permanent in die tägliche Arbeit seiner kompetenten Kollegen eingreift".

Peng. Und schon ist man wieder mitten drin in einer dieser Stil- und Führungsdebatten, die die Schwimmer doch eigentlich hinter sich lassen wollten. In "Pippi-Langstrumpf-Manier" mache sich Kurschilgen die Welt, wie sie ihm gefalle, antwortete wiederum Lambertz. Übrigens sei auch kein Trainer ausgegrenzt worden, es hätten sich nur manche "nicht integrieren wollen". Und: "Jeder gute Trainer wird polarisieren. Entscheiden heißt verletzen."

Die Wunden heilen derzeit noch zu. Ein Wort, das dabei wieder wichtiger geworden ist im DSV, lautet: Vertrauen. Im Kleinen, weil nun kein Cheftrainer mehr jede absolvierte Kniebeuge abfragt. Aber auch im Großen, weil jetzt kein Athlet mehr Weltjahresbestzeit in der Quali schwimmen musste, um in Gwangju dabei zu sein. Das Team ist viel größer als 2017. In der Theorie haben sich alle störungsfreier vorbereiten können ohne die Lambertz'schen Hardcore-Normen. Aber Gewissheit, ob sich das auszahlt, hat man natürlich nicht.

Schwimm-WM in Südkorea: Umstritten: Henning Lambertz.

Umstritten: Henning Lambertz.

(Foto: Jens Büttner/dpa)

Besuch zum Beispiel in Neckarsulm, bei Fabian Schwingenschlögl, 27, dem besten Deutschen über 100 Meter Brust. Er soll mit der Lagenstaffel die Olympia-Qualifikation schaffen. Schwingenschlögl arbeitet halbtags als Fertigungsplaner - so ist das im deutschen Schwimmen, leben kann davon kaum einer -, aber er war zuletzt oft freigestellt, etwa für Höhentrainingslager. Also, wie ist die Form? "Da muss noch ein bisschen was kommen." Klingt ja nicht so optimistisch ... Doch, schiebt Schwingenschlögl schnell hinterher: "Ich habe noch nie so hart trainiert! Jetzt ein paar Tage Pause", hofft er, "dann bin ich auf einem ganz neuen Level."

Und Philip Heintz berichtet Ende Juni in Heidelberg von seiner Erleichterung, dass er diesmal "nicht, um mich zu qualifizieren, schon alle Körner verbrauchen musste". Er peilt eine Zeit in Richtung der ersehnten 1:55 Minuten an. "Die Speicher sind voll."

Ob das alles klappt? Und wofür es dann gut ist im internationalen Vergleich, gegen Amerikaner, Chinesen, Australier? Klar ist ja auch: Es ist noch keine einzige Medaille gewonnen dadurch, dass im deutschen Schwimmen jetzt wieder ein konstruktives Miteinander herrscht.

Obwohl, doch, eine, die aber schon hundertmal. In Philip Heintz' Kopf.

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