Lukas Märtens hat mal kurz versucht, ein Fußballer zu werden. Mit fünf oder sechs Jahren war das, so genau weiß er das nicht mehr, beim PSV Magdeburg. Seine Eltern wollten, dass er Sport macht, weil ihr Sohn einen ziemlichen Bewegungsdrang hatte. Wie so viele Jungs in seinem Alter. "Sie haben gesehen, dass ich das gebraucht habe", sagte Märtens der SZ ein paar Tage vor dem Start der Schwimm-Weltmeisterschaft in Budapest. Eineinhalb Jahre hielt er es durch: "Es war einfach nicht so meins - fehlende Koordination und Spielintelligenz. Schwimmen war die bessere Wahl."
In der Tat. Am ersten Wettkampftag ist Märtens über 400 Meter Freistil in seinem ersten Finale bei einer WM ins Wasser gesprungen - und hat den Deutschen Schwimm-Verband (DSV) gleich mit der ersten Medaille beglückt. Der 20-Jährige schlug am Samstagabend nach 3:42,85 Minuten an und musste nur Elijah Winnington aus Australien auf der letzten der acht Bahnen vorbeiziehen lassen. Bronze gewann der Brasilianer Guilherme Costa. Und viele fragen sich: Wer ist dieser Märtens?
Der Trainingspartner von Langstrecken-Titelkandidat Florian Wellbrock war erst in diesem Frühjahr so richtig emporgeschossen mit drei Weltjahresbestzeiten, neben den 400 auch über 800 und 1500 Meter Freistil. Im Frühjahr war er in Stockholm in 3:41,60 Minuten gar bedrohlich nahe an den 400-Meter-Weltrekord von Paul Biedermann herangeschwommen - eine Bestmarke, die Märtens irgendwann brechen möchte. In Budapest hat der 1,92-Meter-Schlaks nun immerhin schon mal als erster Deutscher seit Biedermann 2011 in Schanghai (Bronze) auf dieser Strecke eine Medaille gewonnen.
Und regenerieren kann er offenbar auch. Denn am Sonntag war er schon wieder über 200 Meter Freistil gefordert und zog als Siebtschnellster ins Finale am Montagabend ein. "Ich habe das Rennen gut weggesteckt, meine Beine sind trotzdem noch relativ schwer", sagte Märtens, der am Abend zuvor kaum den Zickzack-Kurs durch die Interview-Zone bewältigen konnte, so platt war er nach seinem Silber-Wettkampf.
Märtens' Erfolgsgeheimnis: Konkurrenzdruck in der Magdeburger Trainingsgruppe
Dass Märtens sich so stark entwickelt hat, hängt vor allem mit seiner Trainingsgruppe in Magdeburg zusammen. Dort schwimmt nicht nur Weltmeister und Olympiasieger Florian Wellbrock, der am Montag über 800 Meter Freistil in die WM startet und dem er äußerlich so sehr ähnelt, dass er problemlos als dessen Zwillingsbruder durchgehen könnte - sondern auch Michailo Romantschuk, der vor dem Krieg in seiner Heimat Ukraine geflüchtet ist und von Wellbrock trotz der großen Rivalität in die Gruppe aufgenommen wurde. Märtens, der seit drei Jahren zusammen mit Wellbrock trainiert, profitiert enorm von dieser ungewöhnlichen Konstellation. "Ich habe in Magdeburg ein tolles Umfeld", sagte er der SZ vor der WM - und lobte Wellbrock: "Er hat gesehen, dass ich einen guten Willen und viel Talent habe, und mich mitgezogen."
Seine Wenden werden immer konstanter, auch wenn bei der Abstoßgeschwindigkeit noch ein paar Zehntel drin seien. "Da ist das Problem, dass ich noch zu lange an der Wand verweile." Außerdem sei er kaum krank gewesen, die beiden Höhentrainingslager im Frühjahr hätten ihm auch sehr viel gebracht. Und er hat seine Lehren aus den Spielen in Tokio gezogen, die keine gute Erfahrung für ihn waren: In allen drei Vorläufen seiner Einzelrennen war Märtens ausgeschieden, auch weil er sie mitunter zu schnell angegangen war. Ein taktischer Fehler, der ihn fast auch in Budapest wieder eingeholt hätte. Jedenfalls kritisierte Bundestrainer Bernd Berkhahn bei allem Lob für Märtens: "Er hat ein bisschen zu viel Gas gegeben. Wenn er es taktisch anders gestaltet hätte, wäre er noch viel weiter an seine Bestzeit herangekommen." Dass es trotzdem für Silber gereicht hat, zeigt, wie groß Märtens' Potenzial ist.
WM-Silber ist mit Abstand der größte Erfolg in seiner bisherigen Karriere - es soll nicht sein letzter Coup in Budapest gewesen sein. So kann man auch seine eher verhaltenen Emotionen deuten. Nur kurz zeigte er bei der Siegerehrung die Faust - wobei Märtens ohnehin einer ist, der sich eher nach innen freut. Auf den beiden langen Strecken über 800 und 1500 Meter Freistil "will ich es jetzt wissen, vielleicht eine Medaille holen", sagte er. Ausgerechnet auf jenen Strecken also, auf denen seine Trainingspartner Wellbrock und Romantschuk starten.
Irgendwann wird es zur Wachablösung kommen, das glaubt jedenfalls Bundestrainer Berkhahn. Märtens sei deutlich schneller, als es Wellbrock, 24, in jenem Alter gewesen sei. Bis vor ein paar Monaten habe er die starken Trainingsleistungen aber im Wettkampf "nie auch nur ansatzweise umsetzen können", sagte Berkhahn vor WM-Beginn, "im April war es das erste Mal. Der Groschen ist gefallen."
Märtens sieht Wellbrock immer noch als Vorbild, sie verstehen sich gut, auch wenn ihre Partnerschaft nicht so weit geht, dass sie zusammen ins Kino gehen würden. Sie sehen sich in der Schwimmhalle schon oft genug. Zugleich findet es Märtens "sehr besonders, Florian in diesem Jahr so oft geschlagen zu haben". Irgendwie ist die Situation gerade vergleichbar mit zwei Brüdern, bei denen der ältere den jüngeren hunderte Male im Garten im Tischtennis bezwingt, ihn aber zugleich automatisch durch das Training immer besser macht. Bis der Tag kommt, an dem der Jüngere den Älteren zum ersten Mal schlägt. Wer weiß, vielleicht passiert das bereits in dieser Woche in Budapest.
Am Samstagabend gab es noch ein kleines Silber-Fest im Team-Hotel der DSV-Delegation auf der schönen Margareteninsel inmitten der Donau, samt Kuchen und veritablem Tischfeuerwerk, das, wie es hieß, in Deutschland wohl seine Zulassungsschwierigkeiten gehabt hätte. "Das war schon eine super Geste", sagte Märtens, der nach eigenen Angaben hunderte Nachrichten auf seinem Handy hatte, aber noch nicht dazugekommen war, auch nur ein paar davon zu lesen. "Das Team war sehr gut drauf und hat mich ein bisschen gefeiert. Aber es muss jetzt weitergehen." Es geht auch weiter. Mit dem Unterschied, dass nun alle wissen, wer dieser Lukas Märtens ist.