Schwimm-Weltmeister Florian Wellbrock:Ein Schlaks schreibt Geschichte

Schwimm-Weltmeister Florian Wellbrock: "Ich glaube, ich brauche noch eine Nacht, um das zu realisieren": Florian Wellbrock

"Ich glaube, ich brauche noch eine Nacht, um das zu realisieren": Florian Wellbrock

(Foto: AFP)

Schwierige Schulzeit, aufmüpfige Jugend - und nun Doppelweltmeister: Florian Wellbrock gewinnt Gold im Freiwasser und im Becken. Das hat vor ihm noch niemand geschafft.

Von Claudio Catuogno, Gwangju

Weltmeister im Zehn-Kilometer-Draußenschwimmen war Florian Wellbrock bereits. Und nun machte sich dieser 21-jährige Schlacks vom SC Magdeburg also daran, Geschichte zu schreiben. Kopf an Kopf, Hüfte an Hüfte glitten im WM-Becken von Gwangju drei Schwimmer dahin, 200 Meter, 400 Meter, bei den Wenden, wenn auf den Screens in der Halle die Zwischenzeiten eingeblendet wurden, wechselte die Führung oft nur um ein paar Hundertstel. 600 Meter, 800 Meter, alle anderen in diesem Finale waren längst abgehängt, doch die drei Schwimmer arbeiteten sich nebeneinander durch das Wasser, als wollten sie jetzt Weltmeister im Synchronschwimmen werden.

Geschichte schreiben. Davon sprechen sie im Schwimmen permanent, und irgendwie ist ja auch immer was dran. Auch in Gwangju war wieder jeden Abend irgendwer der oder die Erste auf irgendeiner Strecke unter irgendeiner Bestmarke, "we are making history", rief der Hallensprecher, so läuft das Geschäft. Manchmal passiert dann aber doch etwas wirklich Großes.

1200 Meter. In der Mitte des Trios wuchtete sich der Italiener Gregorio Paltrinieri, 24, durchs Wasser, daneben der Ukrainer Mykhailo Romanchuk, 22, auf der anderen Seite Wellbrock. Die beiden schwimmen völlig anders als Paltrinieri, ruhiger, eleganter, sie liegen im Wasser, als wäre es Milch. "Ich wusste, dass ich mich irgendwann absetzen muss", sagte Paltrinieri später, "ich habe unzählige Versuche unternommen, aber immer nach 20 Metern ging es nicht mehr." Wellbrock ließ sich einfach nicht abschütteln.

Er blickt in eine unbestimmte Ferne

1400 Meter. Florian Wellbrock hatte sich gerade noch mal umgedreht, um auf der Videowand zu erspähen, wie weit es noch ist. "Die Anzeigen unter Wasser sind leider kaputt", und im Vorlauf hatte man ihm irrtümlich zu früh die Glocke geläutet als Signal, dass es auf die letzten zwei Bahnen geht. "Kopf runter, schnell bleiben", das waren seine Gedanken auf den letzten 50 Metern, als er schließlich davonzog.

Natürlich ist Florian Wellbrock dann nicht auch noch Weltmeister im Synchronschwimmen geworden. Sondern über 1500 Meter, die längste Disziplin der Beckenschwimmer. Das war tatsächlich historisch. Nie zuvor hat es bei einer WM jemand fertiggebracht, auf einer Freiwasser- und auf einer Beckenstrecke zu triumphieren. Bis zu diesem Sonntagabend.

Nach 14 Minuten, 36 Sekunden und 54 Hundertsteln war es vollbracht. Romanchuk sicherte sich Silber (14:37,63), Paltrinieri blieb Bronze (14:38,74). Und Florian Wellbrock ist nun der erste deutsche Weltmeister im Becken seit dem Brustschwimmer Marco Koch 2015 in Kasan.

Bei der Siegerehrung blickte Wellbrock scheinbar unberührt in eine unbestimmte Ferne. Aber wenn die Kameras nahe heran zoomten, sah man seinen Kehlkopf sich auf und ab kämpfen wie bei jemandem, der seine Emotionen im Griff behalten will. Das hätte er sich wohl nicht verziehen: vor der Weltöffentlichkeit in Tränen auszubrechen. Nicht heulen, das war schon sein Credo gewesen, als sie am Hafenbecken von Yeosu die Nationalhymne zu seinen Ehren gespielt hatten.

Die Mutter weint auf der Tribüne

Bloß nicht die Kontrolle verlieren. In diesem Sinne hat Florian Wellbrock dann in Gwangju auch den weiteren Abend verbracht. Fotos hier, Interviews da, Dopingtest, Pressekonferenz. Die Medaille hatte er da längst in ihrem Kästchen verstaut. Und wenn er über diesen Erfolg sprach - "das ist natürlich eine große Nummer, da spüre ich schon auch ein bisschen Genugtuung" - dann klang er, als halte er gerade in der Schule ein Referat über einen Schwimmer, über den er ein paar interessante Dinge im Internet gefunden hat.

Dafür schluchzten auf der Tribüne die Eltern, die ihn großgezogen haben in Bremen, die einige schlaflose Nächte verbrachten aus Sorge, was aus dem Florian mal werden würde. Schwierige Schulkarriere, aufmüpfige Jugend. Und dann, nachdem er mit 17 nach Magdeburg zum Trainer Bernd Berkhahn gewechselt war, hat er das Gymnasium geschmissen. Klar, sagte Wellbrock in Gwangju, "ab der fünften Klasse haben Jungs in der Regel keinen Bock auf Schule, das war bei mir nicht anders". Er wollte immer nur schwimmen. Stattdessen also: Praktikum in einer Wohnungsgenossenschaft, Ausbildung zum Immobilienkaufmann. Auch durch die Lehrjahre haben sie ihm hin und wieder durchhelfen müssen, Berkhahn war da weit mehr als nur Trainer. Diesen Mai hat Wellbrock die Abschlussprüfung bestanden. "Rückblickend hat mir die Ausbildung sehr gut getan", sagte Wellbrock nun in Gwangju, ehe er sich aufmachte zu feiern, "sie hat meine Schwimmkarriere eher begleitet als behindert, ich bin daran gewachsen und selbstbewusster geworden."

Eine Familientragödie, als er neun Jahre alt war

Man kann sich Florian Wellbrock auf verschiedenen Wegen nähern. Über eine Familientragödie, als er neun Jahre alt war: Damals war seine Schwester nach einem Wettkampf zusammengebrochen und konnte nicht mehr wiederbelebt werden. Er hat "da für mich einen Haken hinter gemacht", hat er der SZ kürzlich bei einem Treffen in Magdeburg erzählt, "so emotionslos das vielleicht klingen mag". Kontrolle, darum geht es.

Oder man nähert sich Florian Wellbrock über die Schwimmerin Sarah Köhler, die ebenfalls mit zwei Medaillen aus Südkorea nach Hause reist, mit Staffel-Gold im Freiwasser und Silber über 800 Meter Freistil. Nach Hause, das heißt jetzt auch für Köhler: Magdeburg. Sie ist von Heidelberg dort hin gewechselt nach vielen Monaten des kraftraubenden Pendelns, der gemeinsamen Liebe wegen. Aber vorerst wohnen sie in getrennten Appartements. Kontrolle.

Diesem 1500-Meter-Rennen von Gwangju allerdings muss man sich von einer gewaltigen Enttäuschung her nähern: Über die 800 Meter war Wellbrock als 17. im Vorlauf gescheitert. "Er hat gerade das Gefühl, dass er nicht mehr schwimmen kann", berichtete der Trainer Berkhahn kurz darauf von seinem tief verunsicherten Schützling. Danach startete beim deutschen Team das "Projekt Florian". Trainingswissenschaftler, Psychologin, der Trainer, gemeinsam drehten sie jeden Stein um. "Ich glaube, wir haben es jetzt", sagte Berkhahn dann am Samstag. Offensichtlich hatten sie es jetzt.

War es eine Kopf- oder eine Körpersache? Oder beides? "Das will ich eigentlich gar nicht so genau sagen", sagte Wellbrock am Sonntagabend in Gwangju. Nicht, dass Paltrinieri oder Romanchuk noch was spitz kriegen. Die Drei sehen sich ja wieder, in einem Jahr in Tokio, und dann will Florian Wellbrock ganz sicher nicht Olympiasieger im Synchronschwimmen werden.

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