Schwimm-WM:Akute Anschreigefahr im deutschen Schwimmen

Schwimmen: Weltmeisterschaft

Umstritten: Bundestrainer Henning Lambertz dirigiert die Schwimmer.

(Foto: Jens Büttner/dpa)
  • Bei dem Versuch, das deutsche Schwimmen zurück in die Weltspitze zu führen, hat sich Chef-Bundestrainer Henning Lambertz nicht nur Freunde gemacht.
  • Athleten haben einen Brandbrief geschrieben, Philip Heintz bekam bei der WM in Budapest gar einen Wutausbruch.
  • Auch ein wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft zweifelt an Lambertz' Konzept.

Von Claudio Catuogno

Am vorigen Dienstag hat die Brustschwimmerin Vanessa Grimberg, 24, in Stuttgart einen Zug nach Münster bestiegen. Knapp fünf Stunden durch Deutschland, weit weg von den Schwimm-Weltmeisterschaften in Budapest. Von Münster ging es dann mit der Regionalbahn weiter nach Warendorf, zur Sportschule der Bundeswehr. Grimberg fuhr zu ihrer eigenen Entlassung. Sie gab ihre Ausrüstung zurück - und ihre Existenzgrundlage. Eine letzte Nacht in der Kaserne. Am Mittwoch dann wieder sechs Stunden hinter dem Zugfenster. Zeit zum Nachdenken. Bei der WM fanden an jenem Dienstag, an dem die beste deutsche Brustschwimmerin eine Zugfahrt unternahm, alle Halbfinal- und Finalläufe ohne deutsche Beteiligung statt.

Das war aber keine Überraschung, nur mit 14 Schwimmern war der Chef-Bundestrainer Henning Lambertz, 46, nach Budapest gereist. Darunter Etablierte, von denen Franziska Hentke, 28, am Donnerstag die einzige Medaille für den Deutschen Schwimm-Verband gewann: Silber über 200 Meter Schmetterling. Und junge Debütanten, die "Erfahrung sammeln" sollten und zum Teil überzeugten. Etwa Aliena Schmidtke mit zwei deutschen Rekorden samt Finaleinzug über 50 Meter Schmetterling. Andere? Haben "Lehrgeld bezahlt", sagte Lambertz.

Vanessa Grimberg weiß, was Lehrgeld ist. Sie war im Sommer 2016 in Rio dabei, bei Olympia, als eine Schwimmerin von vielen. Mit der Lagenstaffel verpasste sie das Finale. Mit ihren aktuellen Zeiten hätte Grimberg auch in Budapest keine Finalchance gehabt. Aber inzwischen ist sie - unfreiwillig - ein Symbol geworden für den rauen Wind, der im Spitzensport neuerdings weht. Weil sie gerne gleichzeitig Sportlerin sein will und trotzdem daheim in Stuttgart wohnen, weil sie weiter bei Jan König trainieren will wie seit 13 Jahren - und nicht an einem Bundesstützpunkt. Und weil der Cheftrainer Lambertz deshalb ihre Kündigung aus der Bundeswehr-Sportfördergruppe veranlasst hat.

So jedenfalls geht die Kurzversion, die vor der WM für Aufsehen sorgte. Tatsächlich ist die Geschichte nicht nur komplizierter. Es gibt auch verschiedene Versionen.

Lambertz' Version geht so, dass es im Hochleistungssport keinen Stillstand geben darf. Dass man die knappen Ressourcen bestmöglich einsetzen muss. Dass es dafür den Mut der Einzelnen braucht, neue Wege zu gehen. Lambertz muss etwas verändern, das ist unstrittig. Wenn im deutschen Schwimmen alles so bleibt wie bisher, sagt er, "dann kommt 2020 in Tokio das Gleiche raus wie 2012 und 2016: null Medaillen". Und beim Bemühen, das zu verhindern, kann es halt auch mal passieren, dass eine Athletin ihren Kaderplatz räumen muss. Zumal wenn sie, wie Grimberg, Angebote ausschlage, sich bei der Leistungsentwicklung helfen zu lassen.

Andere, die mit dem Fall zu tun haben, beteuern hingegen, dass konkrete Angebote nie besprochen wurden. Es gab einen Disput zwischen König und Lambertz über die Abgabe einer Olympia-Auswertung, dann den Hinweis per Mail, an einem Dienstag im April, nur die zeitnahe Bereitschaft für einen Wechsel an einen Bundesstützpunkt könne Grimbergs Nicht-Verlängerung beim Bund verhindern, Frist bis Donnerstagabend. Und dann, schon vor Ablauf der Frist, die Kündigung. "Man fühlt sich hilflos", sagt Vanessa Grimberg: "Fallen gelassen." Sie hat sich jetzt einen Werkstudentenjob bei Daimler gesucht, für Olympia in Tokio will sie sich trotzdem qualifizieren. Das wird schwer.

Die übergeordnete Frage ist aber ohnehin eine andere: Wieso gibt es eigentlich schon wieder so viele Missverständnisse im deutschen Schwimmen?

"Der hat die Reise hierher aus eigener Tasche bezahlt"

Klar, diese Frage ist auch oft in den Hintergrund gerutscht in Budapest. Etwa am Donnerstag, als Franziska Hentke in der Duna Aréna stand und schluchzte: "Ich bin einfach glücklich, dass ich diese blöde Medaille jetzt hab." WM-Silber! Bernd Berkhahn, der sie in Magdeburg trainiert, sagt über Hentke, sie sei jemand, der "Dinge immer zweimal machen muss", ehe sie klappen. Dann klappen sie richtig. 2015, bei der WM in Kasan, war Hentke auch schon als Weltjahresbeste angereist - hatte aber unter der Last der Erwartungen ihr Gefühl fürs Rennen verloren. Diesmal klappte alles perfekt. "Kopfsache", sagte sie.

Am Abend stieß sie mit dem DSV-Team auf die Medaille an, stellte den Sekt aber schnell beiseite, sie mag keinen Alkohol. Ein kleiner Misston kam erst am nächsten Tag in die Geschichte, als sie zugab, dass sie es "schon etwas schade" finde, ihren Trainer nicht am Beckenrand zu haben. "Der hat die Reise hierher aus eigener Tasche bezahlt", sagte sie, treffen konnte sie Berkhahn nur außerhalb der Halle.

Lambertz hatte andere Trainer in sein Team berufen. Auch an den Bundesstützpunkten gab es zuletzt Veränderungen: weniger Lambertz-Kritiker in leitenden Ämtern, mehr Unterstützer. Der Cheftrainer bürstet das Schwimmen nach seinen Vorstellungen zurecht. Das ist sein Recht. Trotzdem sind die Bruchlinien in Budapest wieder aufgerissen. Neben Hentke stand am Freitag Philip Heintz, 26, der in Heidelberg bei Michael Spikermann trainiert. Gerade hatte er mit der 4 x 200- Meter-Freistil-Staffel das Finale verpasst. Am Vorabend hatte es über 200 Meter Lagen nur zu Platz sieben gereicht, in 1:57,43 Minuten, deutlich langsamer als bei seiner Weltjahresbestzeit (1:55,76) vor fünf Wochen. Heintz lehnte an einer Balustrade. Ob er noch hadere, wurde er gefragt. "Ich hadere nicht, ich bin sauer." Er wünsche sich, sagte der wütende Heintz, "dass man die Leute, die schon öfter gezeigt haben, dass sie Leistung bringen, einfach mal in Ruhe lässt im Training. Und denen einfach ein bisschen Vertrauen entgegenbringt und nicht ständig hinterfragt: Was macht ihr denn? Das machen wir aber anders!"

Er wolle nun versuchen, "in meinen zwei Wochen Urlaub die Aggression zu mildern", sagte er, und dann mit Lambertz hart diskutieren: "Wenn beide jetzt direkt aufeinanderkrachen, wird es einfach nur ein sinnloses Anschreien auf gut Deutsch." Heintz wollte keine schlechte Laune verbreiten. Aber: "Im Leistungssport darf es auch mal krachen. Danach sollte man sich aber auch wieder vertragen und nicht hinterm Rücken irgendwelche Sticheleien ausüben." Es muss sich einiges angestaut haben in der Beziehung des Philip Heintz zu seinem Bundestrainer. Warum genau? Heintz fühlt sich in der Form seines Lebens - aber durch die Planungen des DSV um eine Medaille gebracht. Er hatte sein Höhentrainingslager vor die Deutschen Meisterschaften gelegt, um in Berlin Lambertz' harte Qualifikationsnormen zu schaffen. Da die WM nur fünf Wochen später anstand, war ein weiterer Aufenthalt in der Höhe nicht möglich. Suboptimal. Lambertz entgegnete, der Zeitabstand sei "handhabbar" gewesen. Er riet Heintz, "vor der eigenen Tür zu schauen, ob man individuelle Dinge hätte besser machen können". Andere seien mit dem Zeitabstand ja auch klar gekommen.

Die ratlose Vanessa Grimberg. Die jubelnde Franziska Hentke. Der wütende Philip Heintz. Irgendwo zwischen diesen Polen bewegt sich das deutsche Schwimmen gerade.

Fünf Seiten, die es in sich haben

Man muss wohl einen Blick auf den Spitzensport insgesamt werfen, um zu begreifen, warum Henning Lambertz jetzt tut, was er tut. Der Sport krempelt sich ja gerade radikal um, Stichwort: Strukturreform. Statt Breite und Vielfalt sollen in Zukunft fast nur noch die Besten gefördert werden. Und abgerechnet wird dann bei Olympia. Nur bei Olympia. Bringt Lambertz 2020 zwei Medaillen aus Tokio mit, hat er seinen Job gut gemacht. Wenn nicht, ist er gescheitert. Vierte Plätze zählen nicht - das war früher nur der oberflächliche Blick der Medien. Jetzt ist es Staatsprogramm. Man kann das kurzsichtig finden. Aber an dieser politischen Vorgabe kommt Lambertz nicht vorbei. Auch deshalb die harten Normen. Auch deshalb mancher radikale, kompromisslose Weg.

In anderen Sportarten, betont Lambertz, flögen gerade viel mehr Sportler aus der Bundeswehr. Aber neben der Frage des "Warum" gibt es auch die Frage des "Wie". Und da drängt sich der Eindruck auf, dass es Lambertz nicht gelingt, weite Teile des Schwimmens hinter sich zu versammeln. Die Trainerschaft ist gespalten. Sportler schreiben Brandbriefe oder halten Wutreden.

Und im November 2016 hat sich in Leipzig auch ein altgedienter Fachmann an den Computer gesetzt und ein Schreiben an Gabi Dörries, die neu gewählte DSV-Präsidentin, verfasst: Dr. Jürgen Küchler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT). "Mir fällt es sehr schwer, sachlich zu bleiben", so beginnt der Brief, dann folgen fünf Seiten, die es in sich haben.

Er müsse gerade "hilflos zusehen, wie in kurzer Zeit das zu Grunde gerichtet wird, was wir über lange Jahre mühevoll am Laufen gehalten haben", schreibt Küchler. Die Auswertetagung nach den Null-Medaillen-Spielen von Rio sei "eine Farce" gewesen. Lambertz treffe Aussagen "nach Gefühl" statt wissenschaftlich basiert, in seinem Team versammle er "Seher" und "innovative Macher". Insbesondere stört sich Küchler an dem Kraftkonzept, das Lambertz den Schwimmern so verbindlich wie möglich vorgeben will. Fazit: "Herr Lambertz ist dabei, den Leistungssport/Schwimmen im DSV noch tiefer in die Grube zu fahren."

Der Brief liegt der SZ vor. Lambertz sagt, er kenne ihn nicht. Er kenne aber auch keine Alternativvorschläge, wie man denn sonst die Kluft zur Weltspitze wieder schließen wolle. Küchler selbst will kein zusätzliches Öl ins Feuer gießen, am Telefon ergänzt er nur so viel: Er habe von der DSV-Präsidentin nie eine Reaktion erhalten.

Nach einem anderen Brief gab es durchaus eine Reaktion. Dieses Schreiben erreichte Gabi Dörries nach SZ-Informationen im Frühjahr 2017. Unterzeichnet haben es über 20 Schwimmer. Auf 22 Seiten wird aufgelistet, was den Aktiven gegenwärtig missfällt, an den Rahmenbedingungen und am Führungsstil. Diesem Brief folgte ein - angeblich sehr konstruktives - Gespräch mit Dörries in Berlin.

Viel zu reden also. Schon für Freitagabend etwa setzte Henning Lambertz in Budapest jene Aussprache an, die Philip Heintz wegen akuter Anschreigefahr eigentlich erst nach dem Urlaub führen wollte. "In einem freundschaftlichen und konstruktiven Gespräch" hätten der Schwimmer und der Chef-Bundestrainer "aktuelle Unstimmigkeiten angesprochen und offen diskutiert", teilte der DSV am Samstag mit. Dabei ging es wohl vor allem um die Form. "Beide Seiten sind sich einig, dass die detaillierte Analyse der Ergebnisse von Philip in Ruhe unter Einbeziehung der Trainingswissenschaftler des DSV und Philips Heimtrainer Dr. Michael Spikermann im Anschluss an die WM erfolgt."

Immerhin darauf konnte sich Heintz in dem Gespräch berufen: dass er nicht der Einzige ist.

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