Möglicherweise muss man noch mal zurückgehen, zum 2-7-2-System des Thiago Motta, um den Schweizer Fußball bei dieser EM zu erklären. Im November 2018 gab Motta, der im Sommer zuvor seine Spielerkarriere beendet und bei Paris Saint-Germain als Trainer der U19 begonnen hatte, der Gazzetta dello Sport ein Interview, das den Lauf seiner Karriere entscheidend verändern sollte. Manche sagen heute, es hat in der Folge auch den Fußball an sich verändert.
In dem Interview erklärte Motta, er wolle die taktischen Systeme, normalerweise notiert mit der Zahl der Feldspieler pro Kette wie 4-3-3 oder 4-2-3-1, auflösen und in ein sogenanntes 2-7-2 verwandeln. Aber nicht nur, dass er dabei auch den Torhüter mitzählte, er ordnete die Spieler noch nicht mal wie üblich von hinten nach vorne, sondern von rechts nach links an: Zwei Außenspieler auf der linken Seite, sieben in der Mitte des Feldes, zwei Außenspieler auf der rechten Seite erhält man dann. Allein: Erst einmal scheiterte dieser neue Gedanke krachend. Motta, als brasilianisch-katalanisch-italienischer Mittelfeldspieler prädestiniert für eine Rolle als visionärer Trainer, wurde bei seinen ersten Stationen im Profibereich in Genua und La Spezia entlassen.
Sein 2-7-2 verkam öffentlich zur Lachnummer, bis er in Bologna eine neue Heimat fand, wo man ihm ein wenig mehr Zeit ließ, seine Spielideen zu entwickeln – und Motta seinen Durchbruch schaffte, dessen Folgeerscheinungen weit über die Emilia-Romagna hinaus zu spüren sind. Unter anderem bei dieser Europameisterschaft.
Neun Spieler vom Tabellenfünften der Serie A sind mit ihren Nationalmannschaften zur EM gereist. Zu den Bologna Boys zählen einige Fußballer, die etwas unter dem Radar laufen, wie der 19-jährige Pole Kacper Urbanski, der dänische Außenverteidiger Victor Kristiansen und der Österreicher Stefan Posch. Alle drei haben in ihren Nationalmannschaften wichtige Rollen, aus der Reihe fällt nur Stürmer Joshua Zirkzee, den der niederländische Trainer Ronald Koeman auf der Bank sitzen lässt.
Die prominenteren Figuren aber, an denen man den Einfluss Bolognas und damit Thiago Mottas erzählen kann, findet man in der ersten Achtelfinalpaarung, wenn die Schweiz am Samstagabend in Berlin auf Italien trifft.
Mottas System ist für Nationalteams nur bedingt kopierbar, einige Prinzipien aber trotzdem wertvoll
Von welch großer Bedeutung Michel Aebischer, Remo Freuler und Dan Ndoye für die Schweiz sind, lässt sich ganz banal daran feststellen, dass sie direkt verantwortlich für alle Tore waren, die die Mannschaft von Trainer Murat Yakin im Turnier bislang selbst herausgespielt hat: Xherdan Shaqiri (gegen Schottland) und Breel Embolo (gegen Ungarn) trafen nach gegnerischen Fehlern – ansonsten war immer ein Fuß aus Bologna direkt beteiligt. Insgesamt ist der FC Bologna zusammen mit dem FC Barcelona der Klub, der bisher für die meisten EM-Tore mitverantwortlich ist, nämlich für sechs.
Wer nun bei der Schweiz anfängt, Spuren eines Motta-Systems zu suchen, der wird in den 270 Spielminuten allerdings nicht fündig werden. Der sogenannte Relationismus, den der italienische Trainer prägt, will gezielt Räume im Feld verdichten, um Überzahlsituationen zu schaffen, den Gegner in Fallen zu locken und dann umzuschalten. Höchst risikoreich ist das Ganze allerdings im Nebeneffekt und erst nach unzähligen Trainingseinheiten funktional – weshalb es sich für Nationalmannschaften kaum eignet. Der Schweizer Trainer Yakin entspringt außerdem einer grundsätzlich anderen Trainerschule, wenngleich er zu schätzen weiß, was Kollegen wie Motta leisten.
In Italien überzeugt Bologna-Verteidiger Riccardo Calafiori – fehlt aber nun gelbgesperrt
„Für mich ist es eine Erleichterung, weil ich nicht nach Spielern suchen muss“, sagte Yakin vor dem Turnier im Interview mit dem Portal Watson. Auch die Leistungsträger Manuel Akanji (Manchester City) und Granit Xhaka (Bayer Leverkusen) müssen bei den Eidgenossen einen wesentlich pragmatischeren Fußball als im Klub spielen: 45,5 Prozent Ballbesitz etwa hatte die Schweiz im Durchschnitt in der Vorrunde, darüber lächelt man in Manchester, Bologna und Leverkusen nur müde.
Die Konzepte von Vereinstrainern wie Motta, Pep Guardiola oder auch Xabi Alonso allerdings sind so durchdringend, dass deren Spieler in kleinen Entscheidungen auf dem Feld den Weg vorgeben. Im Falle der Schweizer ist das noch klarer als irgendwo sonst: Die Umstellung auf eine Dreierkette wenige Monate vor dem Turnierstart geht offenbar auf eine Initiative des Kapitäns Xhaka zurück, der dieses System laut Medienberichten im Gespräch mit Yakin forcierte. Freuler, Aebischer, Ndoye und der Leverkusener selbst profitieren davon, weil sie nicht mehr nur strikt an ihre Positionen gebunden sind, sondern mehr Freiheiten genießen: Genau das ist der ursprüngliche Grundgedanke, den Motta mit seinem 2-7-2 entwickeln wollte.
Und natürlich profitieren auch Italien und Trainer Luciano Spalletti von ihrem innovativen FC. Als sich vor dem Turnier die Innenverteidiger Francesco Acerbi und Giorgio Scalvini verletzt abmeldeten, kam Riccardo Calafiori zum Einsatz und wurde mit seinem mutigen Verteidigungs- und Aufbaustil – klar erkennbar Mottas Schule – zu einer der Entdeckungen des Turniers. Kleiner Schönheitsfehler: Er fehlt gegen die Schweiz gelbgesperrt. Wie auch immer das Achtelfinale am Samstag ausgeht, eines steht fest: Bologna zählt zu den großen Gewinnern des Turniers. Es ist allerdings auch das letzte Aufleben einer besonderen Mannschaft, die so nicht fortbestehen wird: Zahlreiche Spieler werden den Verein verlassen – und Motta hat bereits bei Juventus Turin unterschrieben.