Schweinsteiger im EM-Halbfinale:Mit Granitmuskeln gegen Frankreichs Geschrei

Der EM-Gastgeber stimmt sich voller Inbrunst auf das Duell gegen die DFB-Elf ein. Und was machen die Deutschen? Werfen Bastian Schweinsteiger ins Rennen - wie zum Trotz.

Von Thomas Hummel, Marseille

Wer sich an diesem Juli-Donnerstag zufällig nach Marseille verläuft, der merkt recht schnell, um was es heute geht. Menschen spazieren in überwiegend blauen oder weißen Fußballtrikots umher. Während des Frühstücks in einem Straßencafé bekommt man Tickets für den Abend angeboten: Kategorie 3 für 165 Euro, Kategorie 1 für 500 Euro. Regulärer Preis. Und aus den Kiosken brüllen die Großbuchstaben regelrecht in die Stadt hinein: "JOUR DE GLOIRE" titelt die Sportzeitung L'Équipe - Tag des Ruhms. Die südfranzösische Tageszeitung La Provence teilt mit: "Der Tag, daran zu glauben, ist gekommen."

Heute soll es geschehen, Frankreich will Deutschland besiegen. Endlich. Vier Jahre hatten sich Trainer Didier Deschamps und seine Mannschaft auf diesen Donnerstagabend im Stade Vélodrome vorbereitet. Die Auslosung war günstig, das Turniertableau ohnehin. Halbfinale war Pflicht für den Gastgeber. Nach dem 5:2 gegen Island ist nun auch das Land begeistert, alle Spieler sind gesund, keiner gesperrt. Und wer Paul Pogba zuletzt gesehen hat, wie er nach dem Viertelfinale in die Kabine stakste, der weiß, was der Ausdruck "stolzgeschwellte Brust" bedeutet.

Und was machen die Deutschen? Stellen Bastian Schweinsteiger auf. Wie zum Trotz.

Die Maßnahme von Bundestrainer Joachim Löw, die Aufstellung seines Kapitäns schon einen Tag vorher bekannt zu geben, wirkt wie ein Fanal. Lasst sie nur schreien, die Franzosen, mit all ihrem Elan, Mut, Glauben und ihrer Euphorie. Bastian Schweinsteiger wird den Gegner auf den Platz führen, ein Mann wie ein Fels. Breitschultrig, ernst, konzentriert. An seinem Quadratschädel und den oberbayerischen Granitmuskeln soll das Gebuhe und Gepfeife der Leute abprallen. "Gerade in einem Spiel in so einem Hexenkessel ist seine Erfahrung immens viel wert. Er wird auf jeden Fall beginnen", erklärte Löw. Als wollte er dem Gastgeber zurufen: Ihr könnt uns nicht umwerfen!

Damit setzt sich eine der wundersamsten Geschichten des deutschen Fußballs fort. Bastian Schweinsteiger ist ja nun 31 Jahre alt und nicht nur Ewald Lienen, der Trainer des FC St. Pauli, sagte zuletzt irritiert, er habe das Gefühl, Schweinsteiger müsse mindestens schon 37 sein. Nach zwölf Jahren Dienst im Nationalteam, 119 Länderspielen und 120 Verletzungen. Der Kerl, aufgewachsen in Oberaudorf am Rande der Alpen, ist der Stehaufmann des Fußballlandes.

Schweinsteiger ist wie ein Gebrauchtwagen

Vor der Europameisterschaft 2012 war er angeschlagen gewesen, vor der Weltmeisterschaft 2014 auch. Da hatte ihn Löw so behutsam herangeführt, dass er am Ende der blutende Ritter des deutschen Triumphes von Rio war. Für immer eingraviert in die nationalen Heldenbücher. Auch in diesem Turnier wirkt Schweinsteiger wie ein Gebrauchtwagen, der ständig in die Werkstatt muss. Wo die Meister der Fußballheiler Klaus Eder (Physiotherapeut) und Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt (Arzt) dann ihre uralten Rezepte von annodazumal herauskramen und den Schweinsteiger wieder hinbiegen.

Im Januar riss das Innenband im Knie. Im März riss das gleiche Band noch mal. Schweinsteiger hatte in diesem Jahr noch kein Spiel über 90 Minuten bestritten. Doch ihn abzuschreiben, ist falsch. Joachim Löw nominiert ihn trotzdem, zum Auftakt gegen die Ukraine spielt er drei Minuten und schießt ein Tor. Im Viertelfinale gegen Italien wird es ernst, weil Sami Khedria nach zwölf Minuten raus muss. Wenig später tut er sich bei einem Pressschlag weh, wieder das Knie. Später sollte eine Zerrung des Außenbandes festgestellt werden. Trotz seines verschossenen Elfmeters kommt Deutschland weiter, doch Khedira und Gomez fallen verletzt aus, Hummels ist gesperrt. Und wieder bangt die Nation: Kann Schweinsteiger spielen?

Natürlich kann er, als wäre es vorbestimmt. Das Abschlusstraining am Mittwoch bestritt er mit dicker Kniebandage und vielleicht trägt er sie auch um kurz vor 21 Uhr beim Einlaufen zur Hymne. Doch niemand soll sich täuschen lassen, Bastian Schweinsteiger ist immer dann am besten, wenn ihn alle schon abgeschrieben haben. Das steht wie eine Überschrift über seiner Karriere, Joachim Löw hat sie längst verinnerlicht: "Bastian ist für unsere Mannschaft schon sehr wichtig."

Nach der EM wird er trotz kürzlicher Gerüchte über einen Wechsel zu PSG nach Manchester zurückreisen. Dort stellt der neue Trainer José Mourinho gerade seinen Klub United auf den Kopf, hat Zlatan Ibrahimovic geholt, den Dortmunder Henrikh Mkhitaryan. Paul Pogba ist auch im Gespräch und noch ein paar andere, Geld ist ja genug da. Schweinsteiger? Wird gerade abgeschrieben.

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