Schottland:Steiniger Weg ins Traumland

Serbia v Scotland - UEFA EURO, EM, Europameisterschaft,Fussball 2020 - Play-offs - Final - Rajko Mitic Stadium Scotland

Finale des Thrillers: Der Serbe Mitrovic scheitert beim letzten Elfmeter an Schottlands Torwart Marshall.

(Foto: Novak Djurovic/Imago/PA Images)

Ein Playoff-Drama in Serbien samt Elfmeterschießen bringt die erste Turnierteilnahme seit 1998.

Von sven haist, Belgrad/London

Die letzten Sekunden waren vor Spannung kaum zu ertragen. Als alle dachten, der Nervenkrimi zwischen Serbien und Schottland um die Teilnahme an der Europameisterschaft habe endlich einen Sieger gefunden, erreichte die Dramatik noch einen weiteren Höhepunkt: Mit der linken Hand hatte Schottlands Torhüter David Marshall den entscheidenden Elfmeter abgewehrt. Aber er traute sich noch nicht zu jubeln, denn war die Parade auch konform mit den leidigen Regeln gewesen? Stand Marshall beim Schuss des Serben Aleksandar Mitrovic mit einem Fuß auf der Torlinie, wie vorgeschrieben? Der Videoschiedsrichter überprüfte die Aktion auf ihre Rechtmäßigkeit. Quälendes Warten begann, für das die englische Sprache eine treffende Redewendung vorsieht: "It is too hard to watch" - es ist nicht mit anzusehen.

Mit flehentlicher Gestik lief Marshall also auf Schiedsrichter Matéu Lahoz zu. Die Arme breitete er erwartungsfroh nach vorne aus, zog sie dann besorgt zum Kopf zurück; seine Daumen gingen hoch, wieder runter, dann erneut ausgebreitete Arme: "Was ist jetzt, Schiedsrichter, zählt die Parade? Oder nicht? Ich war doch auf der Torlinie! Also Abpfiff? Ja? Nein? Was nun?"

So ungefähr müssen Marshalls Gedanken verlaufen sein. Aber dann bestätigte Lahoz den gehaltenen Elfmeter. All die Anspannung der Schotten, das Bangen und Hoffen, es löste sich in ekstatische Freude auf. Schottland war im "Traumland", wie die Zeitung Scotsman später schrieb. Marshall lief los, jubelnd, mit aufgerissenem Mund, aber weit kam er nicht, seine Mitspieler fielen ihm direkt um den Hals. So muss sich Glück anfühlen.

Im Belgrader Dauerregen sangen sie auf dem Platz gemeinsam "No Scotland, no Party", später tanzten sie in der Kabine zum Discoschlager "Yes Sir, I can boogie" einen Boogie-Woogie. Der Hit gehört zum Inventar des schottischen Fußballs, seit ihn Andy Considine, Nationalspieler und Fanliebling beim FC Aberdeen, in einem urkomischen Video auf seinem Junggesellenabschied zum Besten gegeben hat. "Mir fehlen die Worte. Ich weiß nicht, wie wir es geschafft haben", sagte Marshall, 35, der sonst beim englischen Zweitligisten Derby County im Tor steht.

Nach verdammt langen 24 Jahren hat sich Schottland zum dritten Mal nach 1992 und 1996 für eine Europameisterschaft qualifiziert. Fast genauso lange, 22 Jahre, liegt die bisher letzte Turnierteilnahme bei der WM 1998 in Frankreich zurück. Ein historischer Erfolg, zweifellos. Die Nationalelf hatte sich für diese Alles-oder-nichts-Partie in Serbien vorgenommen, nicht nur für sich und die Tartan Army, die schottischen Fans, zu spielen, sondern für das ganze Land. Für die Pubs, Towns, Hügel und Täler, den Thymian und die Heide, für die vielen legendären Spieler und tragischen Figuren der Historie - und jetzt haben die Männer von Trainer Steve Clarke tatsächlich für alle gewonnen: 5:4 im Elfmeterschießen, nach einem 1:1 nach 90 Minuten, mit einem Gegentreffer kurz vor Abpfiff - und einer torlosen Verlängerung. "Nach dem letzten Elfmeter hatte ich ein kleines Funkeln im Auge, aber ich habe es hingekriegt, meine Emotionen unter Kontrolle zu halten", sagte der 57 Jahre alte Clarke. Er werde wohl ein paar Tränen auf seinem Hotelzimmer vergießen.

In einer Mitteilung schrieb das schottische Nationalteam nach dem Spiel an seine Fans: "Wir haben Spieler und Trainer kommen und gehen sehen, aber eines ist durchgehend konstant geblieben: eure unerschütterliche Unterstützung. Wir können es nicht oft genug wiederholen: Vielen Dank!" Schottland sei "back on the map", zurück auf der Landkarte, titelte das Massenblatt Sun. Auf Twitter gehörten nach dem Spiel Schlagworte wie "Scotland", "#SRBSCO" und "David Marshall" zu den weltweiten Trendthemen der Nacht.

Die dramatische Zuspitzung des Spiels hatte sich angedeutet, als der frühere Frankfurter Torjäger Luka Jović für Serbien nach einer Ecke in der 90. Minute per Kopf den Rückstand durch Ryan Christie (52.) ausglich. Stellvertretend für fünfeinhalb Millionen Schotten drückte Sky-Kommentator Ian Crocker sein Entsetzen aus: "Oh no, for Scotland! Scotland, you are going to have to do it the hard way. But the hard way is the Scotland way." - Schottland muss immer den schweren Weg gehen!

Bei der Entstehung der Ecke ließen die Schotten den Ball fälschlicherweise ins Toraus, weil sie dachten, es würde Abstoß geben. Schottischer hätte die Aktion also kaum sein können - sie passte zu den Erinnerungen an diverse herzzerreißende Niederlagen in der Vergangenheit. Auf der Zielgeraden von Qualifikationen scheiterte Schottland oft mehr an sich selbst als an den Gegnern, die Rolle des tragischen Verlierers hatte man dauerreserviert. Diesmal aber verkam das unglückliche Gegentor zur statistischen Bagatelle.

Die Schotten dominierten die Partie aus einer kontrollierten Defensive heraus überraschend souverän, bis ihnen am Ende die Kraft ausging. Doch sie retteten sich - wie schon im Playoff-Halbfinale gegen Israel - ins Elfmeterschießen. Und wieder trafen alle fünf Schützen: Leigh Griffiths, Callum McGregor, Scott McTominay, Oliver McBurnie und Kenny McLean. "Dieser Shootout war vermutlich das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Man hält es nicht aus", gab Torschütze Christie zu. Der Offensivmann von Serienmeister Celtic Glasgow kämpfte im Interview mit den Tränen, dann holte er tief Luft und sagte: "Das war ein schreckliches Jahr für jeden. Wir wussten, dass wir diesem Land eine Kleinigkeit geben können. Ich hoffe, zu Hause feiern alle. Wir verdienen es, nach dem, was wir durchgemacht haben." In sozialen Medien verzierte Regierungschefin Nicola Sturgeon ihre Glückwünsche mit Applaus, Nationalflagge und rotem Herz.

Bei der 2021 geplanten EM komplettiert Schottland die Gruppe D mit England, Kroatien und Tschechien. Zwei der drei Vorrundenspiele darf man im Glasgower Hampden Park austragen, das herbeigesehnte britische Duell mit den Engländern ("Auld Enemy") findet allerdings in London-Wembley statt. Bis dahin ist es noch eine Weile - aber was sind schon ein paar Monate für Schottland, wenn 22 Jahre hinter einem liegen?

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