Schottland fährt zur EM:Boogie-Woogie, die ganze Nacht

Serbia v Scotland - UEFA EURO 2020 Play-Off Finals

Die Schotten jubeln: Die EM wird jetzt eine Party.

(Foto: Getty Images)

In kaum zu überbietender Dramatik qualifizieren sich die Schotten erstmals seit 24 Jahren wieder für die Europameisterschaft. Die Spieler kämpfen mit den Tränen - und tanzen durch die Kabine.

Von Sven Haist, London

Die letzten Sekunden waren vor Spannung kaum zu ertragen. Als alle dachten, der Nervenkrimi zwischen Serbien und Schottland um die Teilnahme an der kommenden Europameisterschaft hätte einen Sieger gefunden, erreichte die Dramatik erst ihren Höhepunkt. Mit der linken Hand hatte Torhüter David Marshall den entscheidenden Elfmeter für Schottland abgewehrt - aber war die Parade auch regelkonform? Stand er beim Schuss des Serben Aleksandar Mitrović mit einem Fuß auf der Torlinie, wie es vorgeschrieben ist? Der Videoschiedsrichter überprüfte die Aktion auf seine Rechtmäßigkeit. Quälendes Warten begann, für das die englische Sprache eine treffende Redewendung besitzt: "It is too hard to watch" - es ist nicht mitanzusehen.

Mehr flehentlich als bittend lief Marshall auf Schiedsrichter Mateu Lahoz zu. Die Arme breitete er erwartungsfroh nach vorne aus, zog sie dann besorgt zum Kopf zurück und forderte mit ihnen den Abpfiff; seine Daumen gingen hoch, wieder runter, erneut verzweifelt ausgebreitete Arme. An den Gesten ließen sich seine Gedanken ablesen, sie müssen etwa wie folgt gewesen sein: "Was ist jetzt, Herr Schiedsrichter, zählt der abgewehrte Elfmeter? Oder nicht? Ich war doch auf der Torlinie! Also, Abpfiff? Ja? Nein? Was nun?"

Schließlich bestätigte Mateu Lahoz den gehaltenen Elfmeter. All die Anspannung der Schotten, das Bangen und Hoffen löste sich plötzlich in ekstatische Freude auf. Schottland war im Traumland, wie der Scotsman anderntags schrieb.

"Nach dem letzten Elfmeter hatte ich ein kleines Funkeln im Auge"

Marshall lief los, jubelnd, mit aufgerissenem Mund, aber weit kam er nicht, seine Mitspieler fielen ihm direkt um den Hals. So muss sich wohl Glück anfühlen. Im Belgrader Dauerregen sangen sie auf dem Platz gemeinsam "No Scotland, no Party" und tanzten später in der Kabine zum Diskoschlager "Yes Sir, I can boogie" den Boogie-Woogie. Der Hit gehört zum Inventar des Schottland-Fußballs, seit ihn Andy Considine, Nationalspieler und Fanliebling beim FC Aberdeen, in einem urkomischen Video auf seinem Junggesellenabschied zum Besten gab. "Mir fehlen die Worte. Ich weiß nicht, wie wir es geschafft haben", sagte Marshall, 35, der sonst beim englischen Zweitligisten Derby County im Tor steht.

Nach verdammt langen 24 Jahren hat sich Schottland am Donnerstagabend zum dritten Mal nach 1992 und 1996 für eine Europameisterschaft qualifiziert; 22 Jahre nach der letzten Turnierteilnahme bei der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich. Ein historischer Erfolg. Die Nationalelf hatte sich für die Alles-oder-nichts-Partie gegen Serbien vorgenommen, nicht nur für sich und die Tartan Army, die Fans, zu spielen, sondern fürs ganze Land. Für die Pubs, Towns, Hügel und Täler, den Thymian und die Heide, für die vielen legendären Spieler und tragischen Figuren der Historie - und jetzt haben die Männer von Trainer Steve Clarke tatsächlich für sie alle gewonnen. Mit 5:4 im Elfmeterschießen, nach einem 1:1 nach 90 Minuten und einer torlosen Verlängerung. "Nach dem letzten Elfmeter hatte ich ein kleines Funkeln im Auge, aber ich habe es hingekriegt, meine Emotionen unter Kontrolle zu halten", sagte der 57-jährige Clarke. Er werde wohl ein paar Tränen auf dem Hotelzimmer vergießen.

In einer Mitteilung schrieb das schottische Nationalteam nach dem Spiel: "Wir haben Spieler und Trainer kommen und gehen sehen, aber eines ist durchgehend konstant geblieben - eure unerschütterliche Unterstützung. Wir können nicht oft genug wiederholen: Vielen Dank." Schottland sei "back on the map", zurück auf der Landkarte, titelte das Massenblatt Sun. Auf Twitter gehörten nach dem Spiel die Begriffe "Scotland", "#SRBSCO" und "David Marshall" zu den weltweiten Trendthemen.

Die dramatische Zuspitzung des Spiels hatte sich angedeutet, als Luka Jović für Serbien nach einem Eckball per Kopf in der 90. Minute den Rückstand durch Ryan Christie (52.) ausglich. Stellvertretend für circa fünfeinhalb Millionen Schotten drückte der geniale Kommentator Ian Crocker bei Sky Sports sein Entsetzen aus. Das wirkt nur richtig, wenn man es im Original liest: "Oh no, for Scotland. Scotland are going to have to do it the hard way. But the hard way is the Scotland way."

Bei der EM kommt es nun zum Duell mit England

Bei der Entstehung der Ecke ließen die Schotten den Ball fälschlicherweise ins Toraus, weil sie dachten, es würde Abstoß geben. Schottischer hätte die Aktion kaum sein können - sie passte zu den Erinnerungen an so einige herzzerreißende Niederlagen in der Vergangenheit. Auf der Zielgeraden der Qualifikationsrunden scheiterte man meist mehr an sich selbst als an den Gegnern.

In diesem Fall verkommt das unglückliche Gegentor zu einer statistischen Bagatelle. Im Duell mit Serbien dominierten die Schotten aus einer kontrollierten Defensive heraus überraschend souverän die Partie, bis ihnen am Ende die Kraft ausging. Sie retteten sich - wie schon beim Playoff-Halbfinale gegen Israel - ins Elferschießen.

Wieder trafen alle fünf Schützen, diesmal: Leigh Griffiths, Callum McGregor, Scott McTominay, Oliver McBurnie und Kenny McLean. "Dieser Shootout war vermutlich das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Man hält es nicht aus", sagte Christie. Mehrmals kämpfte der Offensivmann von Serienmeister Celtic Glasgow im Interview mit den Tränen, dann holte er tief Luft und sagte: "Das war ein schreckliches Jahr für jeden. Wir wussten, dass wir diesem Land eine Kleinigkeit geben können. Ich hoffe, zu Hause feiern jetzt alle. Wir verdienen es, nachdem was wir durchgemacht haben." In den sozialen Medien versah Regierungschefin Nicola Sturgeon ihren Glückwünsch mit Applaus, Nationalflagge und rotem Herz.

Bei der im Sommer 2021 stattfindenden Europameisterschaft komplettiert Schottland die Gruppe D mit England, Kroatien und Tschechien. Zwei der drei Vorrundenspiele wird Schottland im Glasgower Hampden Park austragen. Das besonders herbeigesehnte Aufeinandertreffen mit den Engländern, dem "Auld Enemy", findet am zweiten Spieltag im Londoner Wembley statt. Bis dahin ist es noch eine Weile - aber was sind schon ein paar Monate für Schottland, wenn 24 Jahre hinter einem liegen?

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